/ 11.06.2013
Patrick Hönig
Der Kaschmirkonflikt und das Recht der Völker auf Selbstbestimmung
Berlin: Duncker & Humblot 2000 (Schriften zum Völkerrecht 138); 405 S.; ISBN 3-428-09982-6Rechtswiss. Diss. Köln; Gutachter: G. Brunner, St. Hobe. - Allen Vermittlungsbemühungen zum Trotz gehört der Kaschmirkonflikt seit nun über fünfzig Jahren zu den ungelösten Brennpunkten der Weltpolitik. Als Rarität im heute fast ausschließlich innerstaatlichen Konfliktgeschehen hat er spätestens mit der 1998 offen zur Schau gestellten nuklearen Aufrüstungspolitik Pakistans und Indiens wieder an Brisanz gewonnen. Nicht zuletzt die latente Gefahr einer militärischen Eskalation bis hin zu einem Ein...
Patrick Hönig
Der Kaschmirkonflikt und das Recht der Völker auf Selbstbestimmung
Berlin: Duncker & Humblot 2000 (Schriften zum Völkerrecht 138); 405 S.; 148,- DM; ISBN 3-428-09982-6Rechtswiss. Diss. Köln; Gutachter: G. Brunner, St. Hobe. - Allen Vermittlungsbemühungen zum Trotz gehört der Kaschmirkonflikt seit nun über fünfzig Jahren zu den ungelösten Brennpunkten der Weltpolitik. Als Rarität im heute fast ausschließlich innerstaatlichen Konfliktgeschehen hat er spätestens mit der 1998 offen zur Schau gestellten nuklearen Aufrüstungspolitik Pakistans und Indiens wieder an Brisanz gewonnen. Nicht zuletzt die latente Gefahr einer militärischen Eskalation bis hin zu einem Einsatz von Atomwaffen machen die gesamte Konfliktregion zu einem vorrangigen Gegenstand internationaler Bemühungen zur Streitbeilegung. Jedweder Lösungsansatz kann dabei die Interessen der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs nicht außer Acht lassen. Mit seiner völkerrechtlichen Analyse des Kaschmirkonfliktes unter besonderer Berücksichtigung des Rechtes der Völker auf Selbstbestimmung leistet der Autor hierfür einen empfehlens- und lesenswerten Beitrag.
Im ersten Teil wird zunächst aus dem völkerrechtlichen Volksbegriff, dem Institut der Dekolonisation, der neueren Okkupations- und Annexionslehre sowie dem modernen Menschenrechtsverständnis die personale und sachliche Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechtes im Falle Jammu und Kaschmirs entwickelt. Ausgehend von einem Verständnis der völkerrechtlichen Ordnung als einem Räderwerk ineinander verzahnter, sich gegenseitig bedingender Regeln prüft Hönig anschließend die Geltung dieses Rechtes vor dem Hintergrund möglicherweise entgegenstehender anderer völkerrechtlicher Prinzipien. Wie deutlich wird, können weder Indien noch Pakistan stichhaltige und schutzwürdige Interessen geltend machen, die dem Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung entgegenstehen. Eine Einschränkung bedeutet aber das völkerrechtliche Gebot der Friedenssicherung. Vor dem Hintergrund einer regionalen militanten Szene, die sich heute weder durch klare politische Zielvorgaben noch eine vernünftige Mäßigung bei ihrer Umsetzung auszeichnet, muss Lösungsversuchen unter Berufung auf ein (grundsätzlich umstrittenes) völkerrechtliches Widerstandsrecht eine Absage erteilt werden.
Im zweiten Teil prüft der Autor die vorliegenden beziehungsweise denkbaren Szenarien einer völkerrechtlich konsistenten Lösung des Konfliktes. Dabei wird richtig erkannt, dass die Feststellung, vor allem aber die Umsetzung des Volkswillens mit Rücksicht auf die labile regionale Sicherheitslage kurzfristig nicht möglich ist. Nicht zuletzt bedürfen die politischen Standpunkte der am Streit beteiligten Parteien im Lichte des völkerrechtlich unstrittigen Selbstbestimmungsrechtes der Bevölkerung einer grundlegenden Revision. Nur wenn dies erfolgt, erscheint der durch den Autor entwickelte Lösungsansatz in Form eines regionalen und zeitlich gestaffelten Plebiszites unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen umsetzbar. Ebenso wird deutlich, dass in Ermangelung gleichwertiger Alternativen die Durchführung eines Drei-Optionen-Plebiszites nicht nur politisch, sondern auch rechtlich geboten ist. Wie vom Autor dargestellt, begründet die aus dem ius cogens-Gehalt folgende Geltung des Selbstbestimmungsrechtes erga omnes zwar keine Interventionspflicht der internationalen Gemeinschaft, ein Initiativrecht zur Problemlösung steht ihr aber ohne Weiteres zu. Während der Militärputsch in Pakistan im Oktober 1999 alle Hoffnungen auf einen bilateralen Durchbruch zunichte gemacht hat, ist aber auch nach der erneuten Eskalation und damit ersten bewaffneten Auseinandersetzung zweier Nuklearmächte im Sommer 1999 in der Kargil-Gebirgsregion eine Koordinierung internationaler Bemühungen zur Lösung der Kaschmirfrage nicht in Sicht.
Inhaltsübersicht: I. Aufriß des Kaschmirkonfliktes und seiner völkerrechtlichen Dimension: 1. Der völkerrechtliche Status Jammu und Kaschmirs; 2. Der Kaschmirkonflikt vor den Vereinten Nationen; 3. Entwicklungen im indisch, pakistanisch und chinesisch besetzten Teil Jammu und Kaschmirs; 4. Der Mythos einer bilateralen Konfliktlösung. II. Die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechtes auf den Kaschmirkonflikt: 5. Rechtsträger des Selbstbestimmungsrechtes im Kaschmirkonflikt; 6. Okkupation und Annexion Jammu und Kaschmirs; 7. Jammu und Kaschmir im Dekolonisationskontext; 8. Menschenrechtsverletzungen und Selbstbestimmungsrecht in Jammu und Kaschmir. III. Ausgleich des Selbstbestimmungsrechtes der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs mit konkurrierenden Prinzipien der Völkerrechtsordnung: 9. Rechtsgüterabwägung im Völkerrecht; 10. Ausgleich des Selbstbestimmungsrechtes mit der territorialen Integrität Indiens, Pakistans und Chinas; 11. Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes unter dem Vorbehalt der Gewährleistung von Frieden und Sicherheit in Südasien; 12. "Azadi" und die völkerrechtliche Zulässigkeit der Anwendung von Gewalt. IV. Die Vorgaben des Selbstbestimmungsrechtes zur Lösung des Kaschmirkonfliktes in der völkerrechtlichen Praxis: 13. Grundmuster zur Beilegung des Kaschmirkonfliktes im Lichte des Selbstbestimmungsrechtes; 14. Vorbereitung und Durchführung eines Plebiszites; 15. Völkerrechtliche Rahmenbedingungen einer Verhandlungslösung zwischen Indien, Pakistan und der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs; 16. Internationale Vermittlung im Kaschmirkonflikt. Neueste Entwicklungen und Ausblick.
Thomas Henzschel (TH)
Dr., Auswärtiges Amt, Arbeitsstab Iran.
Rubrizierung: 2.68 | 4.41 | 4.1 | 4.42
Empfohlene Zitierweise: Thomas Henzschel, Rezension zu: Patrick Hönig: Der Kaschmirkonflikt und das Recht der Völker auf Selbstbestimmung Berlin: 2000, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/12500-der-kaschmirkonflikt-und-das-recht-der-voelker-auf-selbstbestimmung_14946, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 14946
Rezension drucken
Dr., Auswärtiges Amt, Arbeitsstab Iran.
CC-BY-NC-SA