/ 11.06.2013
Ulrich Beck / Johannes Willms
Freiheit oder Kapitalismus. Gesellschaft neu denken. Ulrich Beck im Gespräch mit Johannes Willms
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000; 293 S.; ISBN 3-518-41206-XBeck plaudert über die "Zweite Moderne" und die Globalisierung: über die Wahl zwischen Neoliberalismus (= Kapitalismus) und kosmopolitischer Individualisierung (= Freiheit), über globale Bedrohungen durch den Turbokapitalismus, über das Ende der Erwerbsgesellschaft - und über das Selbstverständnis des Sozialwissenschaftlers in diesem Prozess. Willms stellt dem durch seine zahlreichen Publikationen zum Thema Globalisierung bekannten Professor für Soziologie (Ludwig Maximilian Universität München)...
Ulrich Beck / Johannes Willms
Freiheit oder Kapitalismus. Gesellschaft neu denken. Ulrich Beck im Gespräch mit Johannes Willms
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000; 293 S.; kart., 34,- DM; ISBN 3-518-41206-XBeck plaudert über die "Zweite Moderne" und die Globalisierung: über die Wahl zwischen Neoliberalismus (= Kapitalismus) und kosmopolitischer Individualisierung (= Freiheit), über globale Bedrohungen durch den Turbokapitalismus, über das Ende der Erwerbsgesellschaft - und über das Selbstverständnis des Sozialwissenschaftlers in diesem Prozess. Willms stellt dem durch seine zahlreichen Publikationen zum Thema Globalisierung bekannten Professor für Soziologie (Ludwig Maximilian Universität München) die Fragen oder gibt (durchweg zustimmende) Kommentare; kritisches Nachhaken war nicht gefragt, schließlich dient dieses Gespräch nicht der Diskussion, sondern der lockeren Darstellung von Becks Ansichten.
Doch kritisches Nachfragen wäre an zahlreichen Stellen angebracht gewesen. So z. B. bei der Charakterisierung der "Zweiten Moderne" in dem ersten der sechs Gespräche. Man müsse, so Beck, wegkommen von einer auf den Nationalstaat orientierten Sozialwissenschaft (20), weg von der "Unterstellung einer vorgegebenen Kollektivität des Sozialen" (20), weg auch von dem "Fortschrittsoptimismus" der "Ersten Moderne", der mit der "unvorhersehbare[n] und unkontrollierte[n] Offenheit der Entwicklungen" (21) nicht vereinbar ist. Es gelte, die Individualisierungs- und Differenzierungsprozesse zur Kenntnis zu nehmen, die alle herkömmlichen sozialwissenschaftlichen Kategorien in Frage stellen. Der Kern der "Zweiten Moderne" ist - auch wenn Beck diesen Begriff nicht explizit verwendet - der Pluralismus: Es gibt nicht eine Moderne, sondern "die Modernen", die sich transnational in der Konfrontation der unterschiedlichen Modernisierungserfahrungen bestimmen (24). Doch dabei soll nicht alles in gleicher Weise gelten dürfen: Die Menschen- und Bürgerrechte und die Werte der Demokratie sind nicht hintergehbar, denn sie stellen gerade die "Kontinuität" (24) zwischen der "Ersten" und der "Zweiten Moderne" her. Doch hier hätte Willms nachfragen müssen: Wie ist denn diese Kontinuität mit dem grundsätzlichen Pluralismus vereinbar? Wie bringt Beck seine Ablehnung der "Dominanz des Westens" (25) mit der Forderung nach weltweiter Anerkennung der Menschenrechte und der Demokratie in Einklang?
Die plurale, kosmopolitische Gesellschaft wird von Beck näher charakterisiert: Gegen die Mechanismen des globalen Marktes, die als einzige Dimension des Individualismus bloß die Entfaltung des "Marktegoismus" (84) kennen, setzt er die kosmopolitische Individualisierung, die das Soziale neu entdeckt und "ein Sensorium für soziale Zusammenhänge entwickelt" (94). Das Soziale besteht wesentlich in der "Anerkennung der Unterschiedlichkeit der anderen" (258) Doch woher kommt die soziale Orientierung der Individuen? Sie ist nicht von den Individuen intendiert - die Intentionen der Individuen spielen für das Verständnis sozialer Prozesse bei Beck ohnehin kaum eine Rolle -, sondern sind "Nebenfolge" (z. B. 263): Die Individuen merken, dass sie auf andere angewiesen sind, die sie (wenn sie ihre Ziele erreichen wollen) tunlichst in ihrer Unterschiedlichkeit anerkennen sollten. Auf globaler Ebene entsteht der soziale Zusammenhalt durch die globalen Bedrohungen, die vom Turbokapitalismus ausgehen (siehe das dritte Gespräch über die "Weltrisikogesellschaft"). Hier wäre doch wiederum eine Nachfrage angebracht gewesen: Was ist denn die Anerkennung des Anderen wert, wenn sie bloß instrumentell begründet ist? Und was ist eine globale "kosmopolitische Gesellschaft" (242) wert, die aus einer Existenzbedrohung heraus entsteht - und vermutlich mit dem Ende der Bedrohung wieder verschwindet?
Es bleibt die Frage, welche Rolle in der "Zweiten Moderne" der Politik zukommt. Der Staat verliert im Zuge der Globalisierung an Bedeutung. In einem Prozess der "Subpolitisierung" bildet sich eine Vielzahl "neue[r] Akteurszentren" (131) heraus, die den Charakter der Demokratie grundlegend ändern: Die "bislang auf der nationalen Ebene fixierten Souveränitätsrechte" werden auf drei Ebenen umverteilt, nämlich "nach innen in die Gesellschaft, nach unten auf die lokale Ebene und nach außen in die neuen Entscheidungsnetzwerke [...] transnationaler Politikarenen" (269). Wiederum wird im Gespräch nicht die Frage gestellt, wie Beck sich dies vorstellt. Woher nimmt er den Optimismus, dass der Zerfall alter Strukturen - noch dazu als Nebenfolge! - zu einer Art globaler Demokratie führt? Und selbst wenn auf diesen verschiedenen Ebenen demokratische Prozesse ablaufen würden: Was verhindert, dass es zwischen diesen Ebenen zu endlosen Kämpfen um Macht und Einfluss kommt?
Die Funktionsweise und die Voraussetzungen des Pluralismus der "Zweiten Moderne" bleiben also überwiegend im Dunkeln. Und doch offenbart sich der Geist dieses Pluralismus zumindest an einer Stelle, an der es um die Überwindung der Erwerbsarbeit geht. Beck lobt dort die "Pioniere der Nach-Arbeitsgesellschaft" (216), die sich dadurch auszeichnen, dass sie freiwillig und aus innerer Überzeugung keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Er fasst ihre Argumentation zusammen: "Allerdings brauchen wir die Arbeitslosenunterstützung, um das zu tun, was uns wichtig ist. Wir sind insofern zwar Nutznießer dieser Unterstützung, aber wir erobern uns neue Räume jenseits der Arbeitsgesellschaft, indem wir das tun, was uns wirklich wichtig erscheint" - statt uns in "Zwangszusammenhänge hinein[zu]begeben" (216, ähnlich bereits: 110). Doch wie erklärt man dem Arbeiter, der selbst in einem solchen "Zwangszusammenhang" steht, warum er die Individualisierungsprozesse anderer mitfinanzieren soll? Hier könnte Beck mit einem Argument antworten, das er an einer anderen Stelle bringt: dass nämlich im Zuge der Individualisierungsprozesse "die liebenswürdigen Bornierungen zu bewahren" seien (247). Was liebenswürdig ist, entscheidet wohl Beck - somit haben die "Pioniere" alle Aussicht, ihre Bornierung bewahren zu können. - Ob aber die offenen Fragen in Becks Ausführungen ihrerseits zu den "liebenswürdigen Bornierungen" zählen, entscheide der Leser...
Hendrik Hansen (HH)
Dr., Lehrbeauftragter, Politische Theorie und Ideengeschichte, Universität Passau.
Rubrizierung: 2.2 | 2.262 | 4.43 | 5.43
Empfohlene Zitierweise: Hendrik Hansen, Rezension zu: Ulrich Beck / Johannes Willms: Freiheit oder Kapitalismus. Gesellschaft neu denken. Frankfurt a. M.: 2000, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/12737-freiheit-oder-kapitalismus-gesellschaft-neu-denken_15247, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 15247
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Dr., Lehrbeauftragter, Politische Theorie und Ideengeschichte, Universität Passau.
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