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/ 12.06.2013
Hans-Jürgen Döscher

"Reichskristallnacht". Die Novemberpogrome 1938

München: Propyläen Taschenbuch 2000; 217 S.; 3. Aufl.; 7,62 €; ISBN 3-612-26753-1
Drei Fragenkomplexe stellt Döscher in den Mittelpunkt seiner Untersuchung: 1. Gab es nicht auch schon vor den Novemberpogromen von 1938 eine breite antisemitische Radikalisierungstendenz, die z. B. das SD-Hauptamt als "Volkszorn" zur "beschleunigten 'Lösung der Judenfrage'" (11) nutzen wollte? 2. Welche Motive hatte Herschel Grynszpan für sein Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath, dessen Tod nach offizieller nationalsozialistischer Lesart die Novemberpogrome auslöste? War Rath ho...
Hans-Jürgen Döscher

"Reichskristallnacht". Die Novemberpogrome 1938

München: Propyläen Taschenbuch 2000; 217 S.; 3. Aufl.; 7,62 €; ISBN 3-612-26753-1
Drei Fragenkomplexe stellt Döscher in den Mittelpunkt seiner Untersuchung: 1. Gab es nicht auch schon vor den Novemberpogromen von 1938 eine breite antisemitische Radikalisierungstendenz, die z. B. das SD-Hauptamt als "Volkszorn" zur "beschleunigten 'Lösung der Judenfrage'" (11) nutzen wollte? 2. Welche Motive hatte Herschel Grynszpan für sein Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath, dessen Tod nach offizieller nationalsozialistischer Lesart die Novemberpogrome auslöste? War Rath homosexuell und dadurch erpressbar geworden? 3. Weshalb wurde Grynszpans Hauptverhandlung im Frühjahr 1942 doch nicht eröffnet? Hätte sich das NS-Regime tatsächlich "'bis auf die Knochen blamiert'" (12), wie es Leopold Gutterer, Staatssekretär im Reichspropagandaministerium vermutete? Döscher nähert sich diesen Fragen sehr dezidiert, untermauert seine Thesen mit einer Reihe bislang unveröffentlichter Dokumente, die jeweils am Ende der Kapitel stehen. Für den Autor sind die Pogrome 1938 keine Zäsur in der Judenpolitik des Dritten Reiches, sondern der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die schon 1933 einsetzte, bis 1938 allerdings immer wieder durch die Regierenden selbst gebremst wurde; im Jahr der Olympischen Spiele 1936 wird dies besonders deutlich. Die Pogrome vom 9./10. November 1938 sind wiederum nur Höhepunkt von Pogromen, die in Hessen und Magdeburg-Anhalt am 7. und 8. November stattfanden. Und auch nach dem 10. November "setzten viele Nationalsozialisten und der in ihrem Gefolge marodierende Mob die Pogrome fort" (186). Grynszpans Motive kann zwar Döscher auch nicht völlig erhellen, aber es spricht Einiges dafür, dass Grynszpan vom Legationssekretär vom Rath, den er aus dem Pariser homosexuellen Milieu kannte, Geld und Pässe erpressen wollte. Als dies nicht gelang, hat er ihn erschossen. Dieses Tatmotiv und sein homosexueller Hintergrund machten auch schließlich den geplanten Schauprozess zunichte; Grynszpans Spur verliert sich im Konzentrationslager Sachsenhausen. Döscher, der sich durch Darstellungen zur Geschichte des Auswärtigen Amtes im Dritten Reich ausgewiesen hat, stellt bei seiner Analyse der Novemberpogrome einen bislang eher vernachlässigten Aspekt heraus: dass nämlich die Pogrome keineswegs nur die Inszenierung der NSDAP-Größen war, um der Judenpolitik eine neue Wende zu geben. Es handelte sich vielmehr um ein Zusammenspiel zwischen Parteispitze und radikaler Basis, das durch NS-Funktionäre in Partei und Regierung keineswegs grundsätzlich kontrollierbar war: "Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und hättet nicht solche Werte vernichtet", kritisierte Hermann Göring seine verantwortlichen Parteigenossen am 12. November 1938 (119). Inhaltsübersicht: 1. Zur nationalsozialistischen Judenpolitik; 2. Das Attentat Herschel Grynszpans auf Ernst vom Rath in Paris; 3. Inszenierung und Verlauf der Pogrome; 4. Reaktionen und Wirkungen; 5. Propaganda und Verschleierung.
Axel Gablik (AG)
Dr., Historiker.
Rubrizierung: 2.312 Empfohlene Zitierweise: Axel Gablik, Rezension zu: Hans-Jürgen Döscher: "Reichskristallnacht" München: 2000, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/13391-reichskristallnacht_16049, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 16049 Rezension drucken
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