/ 12.06.2013
Urs Stäheli
Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie
Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000; 340 S.; ISBN 3-934730-25-6Im Zuge einer anti-essentialistischen Bewegung, die sich deutlich von normativen Positionen politischer Theorie abgrenzt, scheint die sozialtheoretische Debatte gegenwärtig von post-modernen, dekonstruktivistischen und systemtheoretischen Argumentationen bestimmt zu sein. Zwar nimmt in der deutschsprachigen Diskussion die Systemtheorie in der Gestalt, die ihr Luhmann gegeben hat, noch eine dominierende Stellung ein, doch als Folge ihrer zunehmenden Rezeption im englischen Sprachraum gewinnt der ...
Urs Stäheli
Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie
Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000; 340 S.; geb., 69,- DM; ISBN 3-934730-25-6Im Zuge einer anti-essentialistischen Bewegung, die sich deutlich von normativen Positionen politischer Theorie abgrenzt, scheint die sozialtheoretische Debatte gegenwärtig von post-modernen, dekonstruktivistischen und systemtheoretischen Argumentationen bestimmt zu sein. Zwar nimmt in der deutschsprachigen Diskussion die Systemtheorie in der Gestalt, die ihr Luhmann gegeben hat, noch eine dominierende Stellung ein, doch als Folge ihrer zunehmenden Rezeption im englischen Sprachraum gewinnt der Dekonstruktivismus auch hierzulande mehr Aufmerksamkeit (14 f.). Von dieser Beobachtung ausgehend will Stäheli die "Systemtheorie [...] auf selektive Weise aus der Perspektive einer dekonstruktiven Diskurstheorie" lesen (19). Das Vorhaben ist ausdrücklich nicht als Theorievergleich angelegt (18), würde dieser doch eine übergreifende privilegierte Position voraussetzen, die konzeptionell von beiden Lagern ausgeschlossen wird; der Autor will vielmehr innerhalb der Systemtheorie jene Irritationen - wie das Scheitern von Kommunikationen und das Fehlschlagen von Sinnprozessen - zur Geltung bringen, die in dekonstruktivistischen Ansätzen (herangezogen werden vor allem: Jacques Derrida, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe) systematisch eine viel größere Aufmerksamkeit finden als im Theoriedesign Luhmanns, das sich primär für eine Erklärung des - unwahrscheinlichen - Gelingens von Kommunikationen interessiert (20 f.). Im ersten, umfangreichsten Teil erörtert Stäheli unter diesem Gesichtspunkt - und auf Basis einer außerordentlich präzisen Luhmann-Kenntnis - spezifische Unentschiedenheiten zentraler systemtheoretischer Begriffe (29 ff.). Für Fragestellungen politischer Theorie ist indes der zweite Teil - als "Versuch, das Politische wieder in die Systemtheorie einzuführen" (228) - noch anregender, auch wenn man nicht dem vom Autor zugrunde gelegten Programm einer "post-foundationalist Sozialtheorie" (309) folgen will. Gegenüber Luhmanns Begrenzung des Politischen auf das politische System versucht Stäheli eine Konzeption zu entwerfen, die am Primat des Politischen für moderne Gesellschaften festhält, ohne damit zugleich einem zentrierten Gesellschaftsbegriff das Wort zu reden (249 ff.). Dieser Primat des Politischen liegt freilich auch jenseits traditioneller handlungs- oder konflikttheoretischer Modelle - die "radikale Bedeutung des Politischen als Institution des Sozialen" (260) soll sich vielmehr in den stets möglichen, aber unvorhersehbaren Situationen zeigen, in denen die über die jeweilige Codierung ablaufende Schließung der Funktionssysteme scheitert.
Inhaltsübersicht: 1. Dislokationen: I. Anschluß und Schließung. Das System als Unterscheidung: 1. Die System/Umwelt-Unterscheidung; 2. Autopoiesis und die Schließung des Systems; 3. Systemstörungen; 4. Leere Signifikanten und die Systematizität des Diskurses. II. Das Gelächter der Systeme. Das Problem des Nicht-Sinns in der Systemtheorie: 1. Umrisse des Sinnbegriffs; 2. Sinn und Sinnlosigkeit; 3. Die unbeschränkte Ökonomie von Sinn; 4. Der blinde Fleck; 5. Unmarked space und unmarked state; 6. Die differance der Aktualität. III. Post-Dienste. Die Umschreibung von Kommunikation: 1. Die Dekonstruktion der Kommunikation; 2. Die Sättigung des Kontexts; 3. Die Unwahrscheinlichkeit von erfolgreicher Kommunikation; 4. Der Bruch in der Kommunikation. IV. Die Sprache als combinatoire? 1. Luhmanns Theorie der Sprache; 2. Sprache als Zeichengebrauch; 3. Wiederholung und die Identität der Sprachelemente; 4. Die Rhetorizität von Sprache; 5. Die Konstruktion einer normalen Bedeutung. V. Modi der Wiederholung: 1. Die Wiederholung von Information und Sinn; 2. Das allgemeine Modell der Wiederholung in der Systemtheorie; 3. Die Infrastruktur der Iterabilität (Derrida); 4. Iterabilität und Medialität; 5. Schrift ohne Schrift. VI. Die Operativität von Selbstbeschreibungen Gesellschaftsstruktur und Semantik: 1. Der Begriff der Semantik bei Koselleck; 2. Die "lineare Nachträglichkeit" der Semantik; 3. Konstitutive Nachträglichkeit; 4. Zur hegemonialen Fixierung von Selbstbeschreibungen. 2. Zu einer Politik der Entparadoxierung: VII. Unentscheidbarkeit und das Politische: 1. Unentscheidbarkeit und "policing"; 2. Das politische Supplement; 3. Die Latenz des Politischen in der Systemtheorie; 4. Der Code des politischen Systems; 5. Die doppelte Einschreibung des Politischen; 6. Kontingenzen. VIII. Politik der Entparadoxierung: 1. Entparadoxierung und Konflikt; 2. Entparadoxierung und imaginäre Vollständigkeit; 3. Die Politik der Entparadoxierung und Offenheit; 4. Differenzierung und die Politik der Entparadoxierung.
Thomas Mirbach (Mir)
Dr., wiss. Mitarbeiter, Lawaetz-Stiftung Hamburg, Lehrbeauftragter, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.
Rubrizierung: 5.46 | 5.42
Empfohlene Zitierweise: Thomas Mirbach, Rezension zu: Urs Stäheli: Sinnzusammenbrüche. Weilerswist: 2000, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/13188-sinnzusammenbrueche_15802, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 15802
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Dr., wiss. Mitarbeiter, Lawaetz-Stiftung Hamburg, Lehrbeauftragter, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.
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