/ 22.06.2013
Benjamin Wochnik
Atatürks islamische Erben. Wer regiert die Türkei?
Marburg: Tectum Verlag 2010; 114 S.; pb., 19,90 €; ISBN 978-3-8288-2222-1Die selbstbewusste Außenpolitik der AKP-Regierung der Türkei hat in den vergangenen Monaten – vor allem durch israelkritische Auftritte des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan – verstärkte Aufmerksamkeit erfahren. Manche Beobachter verstiegen sich deshalb zu der These, das Land wende sich vom Westen ab und seinen islamischen Wurzeln zu. Wochnik zeigt, dass diese Einschätzung die tatsächlichen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen verkennt. Der Autor fragt nach den Erfolgsfaktoren der islamisch-demokratischen AKP-Partei, die nach den Parlamentswahlen 2002 als erste islamische Partei eine Alleinregierung bilden konnte, und den Gründen für das Scheitern der kemalistischen Elite, die trotz offener Interventionsdrohungen die Wahl von Abdullah Gül zum Staatspräsidenten 2007 nicht verhindern konnte. Dazu gibt Wochnik eine Darstellung der Geschichte des Landes vom Untergang des Osmanischen Reiches bis zur Präsidentschaftswahl 2007. Die kemalistische Ideologie wird ebenso systematisch dargestellt wie der Werdegang des politischen Islam. Wochnik sieht sowohl exogene als auch endogene Gründe für den Erfolg der AKP. Einerseits haben der kemalistischen Ideologie und Kulturrevolution seit jeher Legitimität gefehlt. Sie sei der Bevölkerung ohne Berücksichtung der gesellschaftlichen Präferenzen aufgezwungen und von einer selbstherrlichen Elite in Politik, Justiz und Militär vertreten worden. Ein repressiver Nationalismus und ein die religiösen Gefühle einer breiten Wählerschaft vernachlässigender Laizismus komplettierten die autoritäre Haltung des Establishments. Andererseits betont Wochnik ebenso die Rolle des Erscheinungsbilds und des Führungspersonals der AKP für ihren Erfolg. Als pragmatische, reformbereite Partei mit dem früheren Istanbuler Bürgermeister und „Mann des Volkes“ Erdoğan hätten sie sich klar und glaubhaft von islamistischen Strömungen distanziert, ohne die sozial-konservative Wählerbasis zu verstören. Ihre eindeutig pro-europäische Haltung und ihr Bekenntnis zur kemalistischen Verfassung würde Störversuche aus dem kemalistischen Lager unterminieren.
Christian Haas (CHA)
M. A., Politikwissenschaftler.
Rubrizierung: 2.63 | 2.22 | 2.23
Empfohlene Zitierweise: Christian Haas, Rezension zu: Benjamin Wochnik: Atatürks islamische Erben. Marburg: 2010, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/32446-atatuerks-islamische-erben_38712, veröffentlicht am 08.07.2010.
Buch-Nr.: 38712
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M. A., Politikwissenschaftler.
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