/ 04.06.2013
Karl-Rudolf Korte
Deutschlandpolitik in Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982-1989
Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1998 (Geschichte der Deutschen Einheit 1); 720 S.; geb. 128,- DM; ISBN 3-421-05090-2Korte legt mit seiner Untersuchung den ersten von insgesamt vier Bänden einer Gesamtdarstellung der deutschen Einigung vor. Die Studie will anhand der Rekonstruktion der Deutschlandpolitik im Zeitraum von 1982 bis 1989 "erstmals Innenansichten der Herrschaftspraxis aus der Kanzlerschaft Kohls [...] präsentieren und damit den Blick hinter die Kulissen" (7) freigeben. Dies war möglich, da die Bundesregierung sich zur frühzeitigen Freigabe der relevanten Akten aus dem Bundeskanzleramt, den zuständigen Bundesministerien sowie der Ständigen Vertretung in Ostberlin entschloß. Korte konnte darüber hinaus noch Akten der Bundestagsfraktion von CDU/CSU sowie des Parteivorstandes der CDU einsehen. Hinzu kamen diverse Privatarchive und nicht zuletzt eine beeindruckende Liste von Interviews mit Beteiligten. Auch Kohl stellte sich entgegen seiner sonstigen Gepflogenheiten zu Auskünften in eigener Sache für zwei Interviews zur Verfügung. Anhand von 18 Beispielen (Regierungserklärung, Milliardenkredit, Kulturabkommen, Honecker-Besuch etc.) soll das Regierungshandeln bestimmt werden. Korte gelingt eine Multiperspektivität, die wohl im nachhinein selbst für manch Beteiligten neue Erkenntnisse zur jeweiligen Sichtweise des Geschehens bieten dürfte. Deutlich wird auch die ständige Verzahnung der analytischen Dimensionen von Policy, Politics und Polity in der politischen Praxis. Die methodischen Fallstricke des Umgangs mit Regierungsakten werden von Korte erkannt und um einige Spezifika erweitert, wenn er etwa Kohls Zurückhaltung in der schriftlichen Kommentierung und die Bedeutung des Telefons für den Bundeskanzler illustriert. Auch in den Zeitzeugeninterviews stellt er einen Hang zur "rückwirkenden Verklärung" (19) fest, die sich jedoch meist anhand von Vergleichsschilderungen entlarven läßt. Es entsteht das Bild eines stark personalisierten, auf individueller Loyalität aufbauenden Beziehungsgeflechts, dessen Machtstruktur jenseits von administrativen Organigrammen und formellen Verfahrensabläufen liegt (Beispiel: die fast völlige Entmachtung des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen zum bloßen Zuträger statistischen Materials). Gerade in diesen informellen Strukturen sieht Korte einen entscheidenen Teil des "Systems Kohl": "Sie bildeten Teile eines politischen Frühwarnsystems, wie es als Instrument in einer Koalitionsdemokratie zum politischen Überleben außerhalb der 'Wagenburg' Kanzleramt zwingend notwendig war." (65) Im Zentrum dieses Gefüges etablierte sich spätestens ab 1984 Wolfgang Schäuble als engster Vertrauter und Mitarbeiter.
Eine weitere Komponente des Systems liegt in der Verbindung von Kanzleramt und Parteivorsitz: "Ohne den Parteivorsitz wäre Kohl ein Kanzler auf Abruf gewesen, ohne Macht und Einfluß, ein Spielball der Koalition." (477) Selbst in den Verästelungen deutschlandpolitischer Entwicklungen manifestiert sich nach Korte letztlich der alles überschattende Imperativ der Machterhaltung. Dieser mahnte zur Vorsicht und zu taktischem Vorgehen. In dieser Hinsicht unterstreicht Korte die geradezu beispielhafte Bedeutung politischer Sprache für das Regierungshandeln, wie sie sich in den Regierungserklärungen und den Berichten zur Lage der Nation niederschlägt: "Dies war die unverstellte, persönliche Essenz der Kohlschen Deutschlandpolitik: mehr Botschaft als Strategie, mehr gemeinschaftsorientiertes Selbstverständnis als konkrete Entscheidungsalternative." (482) Kohl hielt sich mithin aus Konflikten solange heraus, bis seine Entscheidung keine Gefährdung seiner Machtbasis mehr darstellen konnte. Diese Kunst des Machterhaltes hat nach Korte aber auch ihren Preis, denn "wer derart taktisch regiert, hat Mühe, inhaltlich richtunggebend zu wirken, Problemanalysen zu bieten oder konzeptionelle Orientierung zu leisten" (495). In dieser Ambivalenz liegt wohl ein wesentlicher Grund für die vor allem in den Medien zu beobachtende lang andauernde Unterschätzung Kohls. Gleichzeitig liegt in Kohls Herrschaftspraxis ein Teil der Erklärung des effizienten, friedlichen und erfolgreichen "Abschlusses" der Deutschlandpolitik mit der Wiedervereinigung. Über das konkrete Beispiel der Deutschlandpolitik Kohls hinaus wird Kortes Buch die Vorstellung davon, wie in der Bundesrepublik Politik gemacht wird, maßgeblich erweitern.
Manuel Fröhlich (MF)
Prof. Dr., Juniorprofessur für Politikwissenschaft, Universität Jena (www.manuel-froehlich.de).
Rubrizierung: 2.322 | 2.313 | 4.21
Empfohlene Zitierweise: Manuel Fröhlich, Rezension zu: Karl-Rudolf Korte: Deutschlandpolitik in Kohls Kanzlerschaft. Stuttgart: 1998, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/5733-deutschlandpolitik-in-kohls-kanzlerschaft_7456, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 7456
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Prof. Dr., Juniorprofessur für Politikwissenschaft, Universität Jena (www.manuel-froehlich.de).
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