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/ 05.06.2013
Rainer Barzel

Die Tür blieb offen. Mein persönlicher Bericht über Ostverträge - Mißtrauensvotum - Kanzlersturz

Bonn: Bouvier Verlag 1998; 211 S.; geb., 32,- DM; ISBN 3-416-02836-8
Kohls Vorgänger als Parteivorsitzender blickt auf die Jahre zurück, in denen er im Zentrum des politischen Geschehens stand: von 1962 bis 1963 als Minister für gesamtdeutsche Fragen unter Adenauer, von 1964 bis 1973 als Vorsitzender der CDU-Fraktion im Bundestag und von 1971 bis 1973 zudem als Parteivorsitzender – Barzels Comeback als Bundestagspräsident 1983 und der Rücktritt im Zusammenhang mit der Flick-Spendenaffäre 1984 werden ausgeblendet. Im Mittelpunkt stehen die Themen, nach denen er, so Barzel, immer wieder gefragt werde, u. a. von seiner Frau, die er 1997 geheiratet hat und an die er seine Ausführungen im Text immer wieder direkt richtet: der erbitterte politische Kampf um die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition und das Mißtrauensvotum gegen Brandt 1972. Barzels ideologische Disposition in der Deutschlandfrage ist der "Rote Faden" (Kapitel I). Der nach seiner meistens schlichten, aber manchmal nicht unbescheidenen Selbstdarstellung überaus fleißige Deutschlandpolitiker ("So intensiv arbeiteten nur wenige" [20]) hatte schon in den sechziger Jahren klar Stellung bezogen. Mit der CDU erteilte er der Forderung der Sowjetunion, das Ziel der deutschen Einheit fallenzulassen, eine klare Absage. Die Tür, so Barzel, sollte nicht zugeschlagen werden – wobei zumindest schon ein wenig weise Voraussicht herauszuhören ist, aber Barzel wird noch deutlicher. Zwar hätte auch er damals das Ende der Sowjetunion nicht vorhergesehen (21). Aber trotzdem – und nun erliegt der Autor gänzlich der Versuchung, einen Kausalzusammenhang zwischen der damaligen Deutschlandpolitik der Union und der deutschen Wiedervereinigung anzudeuten – sei die Haltung der Union weitsichtig gewesen: "Wir waren mit unseren Gedanken weit voraus. Sie galten der Zukunft. Aber es gab viele, welche den Status quo verherrlichten und statisch alles mit dem Blick in die Vergangenheit und aus dieser regeln wollten" (28). Barzel und die Union der sechziger Jahre also als politische Avantgarde – man muß nur lange genug warten, bis der alte Anzug wieder "in" ist. Willy Brandt war eine "Symbolfigur für viele, viele junge Menschen in Deutschland" (42). Und zweifellos war er dies zu Beginn der sozialliberalen Koalition auch für den Mittvierziger Barzel, und zwar als Personifikation des politischen Gegners. Noch als Wehner und Bahr am Wiedervereinigungsgebot festhielten, beging Brandt einen "Wortbruch", und das "Thema ließ uns nicht mehr los" (43): Brandt wollte nicht mehr von Wiedervereinigung sprechen, für ihn gebe es zwei deutsche Staaten. Wie unterschiedlich die Standpunkte in Regierung und Opposition Anfang der siebziger Jahre in der Deutschlandfrage waren, machen folgende Zitate deutlich: "Die Kommunisten wollten ihre 'Kriegsbeute' in Europa dauerhaft völkerrechtlich sichern, Ruhe nach Westen haben, zumal China den Moskauern in ihrem Osten Sorge machte." Doch mit Brandt, schon längst zu einem "Mythos" (61) geworden, sei ein Gefühl umgegangen, das nach Entspannung und Verständigung gesucht habe. Barzel begründet die Frage, warum die CDU gegen die Moskauer Verträge nicht den verfassungsrechtlichen Trumpf zog und eine Abstimmung in Bundestag und Bundesrat forderte, zumal die Chancen auf eine nach Art. 79 GG erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit aussichtslos waren. "Weil mir an Verständigung mit Moskau lag und ich nicht das Scheitern, sondern die Verbesserung des Vertragswerkes wollte" (78). Doch die Mehrheit in der Unionsfraktion wollte nicht mit Doppeldeutigkeiten im Vertragsentwurf leben. So blieb als letztes "Kampfmittel" das konstruktive Mißtrauensvotum gegen Brandt und damit gegen seine inzwischen durch das Patt im Parlament handlungsunfähig gewordene Bundesregierung. Die öffentliche Diskussion war an ihrem hitzigen Höhepunkt angelangt. Barzel kaufte sich eine englische Reiterjacke, von der er Eier und andere Wurfgegenstände leichter abwischen konnte. Der Autor beschreibt den zunehmenden Druck, der insbesondere auf den zur Union "übergelaufenen" neun Bundestagsabgeordneten lastete. Geld sei dabei nie im Spiel gewesen. Bedenken gegen das Mißtrauensvotum kamen in ihm auf, ein späterer Zeitpunkt erschien für eine Regierungsübernahme aussichtsreicher. Aber: "Durfte ich so egoistisch, so geschichtslos handeln?" Denn nicht nur die Verträge mußten verhindert werden, auch innenpolitisch habe es gegolten, "das Ruder herumzuwerfen, Schaden abzuwenden" (109). Bei der Abstimmung am 27.04.1972 fehlten zwei Stimmen für Barzel, da es unerwartet drei Enthaltungen gegeben hatte. Barzel will eigentlich nicht spekulieren: "Ich weiß nur, daß auch Landesverrat meine Kanzlerschaft verhindert hat" (118). Er rekurriert anschließend aber doch auf Aussagen von DDR-Geheimdienstchef Markus Wolf, nach denen Julius Steiner (CDU) ein Dissenter gewesen sein soll. Zudem führt er noch eine Andeutung in den Memoiren vom damaligen Botschafter der Sowjetunion, Valentin Falin, an. Danach habe der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Karl Wienand, Steiner bestochen (119 f., 181). Nachdem Barzel auch zum Parteivorsitzenden der Union gewählt worden war, ging das Ringen um die Ostverträge weiter. Öffentlich lastete ein schwerer Druck auf der Union zuzustimmen, aber auch innerhalb von Fraktion und Partei habe es die heftigsten Auseinandersetzungen seiner Karriere gegeben. Barzels "Ja" zu den modifizierten Verträgen (Festschreiben des Vertrages als "Modus vivendi") wurde durch den Druck der CSU zu einer geschlossenen Enthaltung der Union. Es sei für ihn persönlich ein Fehler gewesen: Er hätte zurücktreten oder den Bruch mit der CSU wagen sollen. So aber bleibt Barzel diesbezüglich nur noch ein Zitat von Karl-Dietrich Bracher, nach dem er durch Strauß demontiert worden sei (168 f.). Die wesentliche Ursache für Brandts Rücktritt – so Barzel im letzten Kapitel, quasi als Nachschlag – war "der deutschlandpolitische Hintergrund" (181), konkret: Brandts Mitwirkung an den modifizierten Ostverträgen mit dem "Modus vivendi". Dies hätten ihm die Parteifreunde um Wehner nie verziehen. Guillaume und Frauengeschichten seien nur ein Vorwand gewesen. Und so kommt am Schluß ein Gefühl der Verbundenheit zu Brandt auf. Schließlich habe dieser bei der Wiedervereinigung 1989 erkannt, daß nun zusammenwachse, was zusammengehört. Die Tür zu dieser Entwicklung habe jedoch nicht Brandt offengehalten, sondern - so darf der Leser schließen – Rainer Barzel. Inhaltsübersicht: Mein Roter Faden; Bundeskanzler Brandt; Moskau; Ein Vertrag – zwei Inhalte; Konstruktives Mißtrauensvotum; Enthaltung; Moskau gab nach; Kanzlersturz.
Stefan Lembke (SL)
M. A., Politikwissenschaftler.
Rubrizierung: 2.32.3314.212.313 Empfohlene Zitierweise: Stefan Lembke, Rezension zu: Rainer Barzel: Die Tür blieb offen. Bonn: 1998, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/6973-die-tuer-blieb-offen_9343, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 9343 Rezension drucken
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