/ 11.06.2013
Stephan Sandkötter
Modernisierungsforschung in Brasilien
Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 1999 (Campus Forschung 796); 305 S.; kart., 74,- DM; ISBN 3-593-36358-5Soziolog. Diss. Münster. - "Das Projekt Moderne lebt!" (263) Diese Schlussfolgerung zieht Sandkötter mit Blick auf das Vermächtnis der Modernisierungsforschung Brasiliens für die aktuelle sozialwissenschaftliche Debatte des Landes, die sich mit der Globalisierung und Modernisierung auseinandersetzt. Die genannte Diskussion fußt auf einer langen Forschungstradition: Seit gut siebzig Jahren wird über Brasiliens Weg in die Moderne gestritten. Den Leser erwartet eine kenntnisreiche Darstellung der brasilianischen Sozialwissenschaften und ihre "Verstrickung" mit der Modernisierung des Landes. Sandkötter zeichnet nach, wie Moderne zu Modernisierung wird und für welche Zwecke der Begriff von den sozialen und politischen Akteuren gebraucht wird. Chronologisch werden die verschiedenen Ansätze und Schulen sowie ihre exponiertesten Vertreter präsentiert. Der konservative Modernisierer Gilberto Freyre formuliert in den 30er-Jahren das Konzept der Multikulturalität Brasiliens. Es wird zum Konstruieren für die multiethnische Mega-Gemeinschaft Nation unter dem Diktator Vargas (1930-1945) aufgegriffen, ein direkter Zusammenhang zwischen beiden ist historisch umstritten. Die Überwindung der chronischen sozioökonomischen Ungleichheit, wird von Caio Prado als Bedingung für den Weg in die Moderne gefordert. In den Fünfzigerjahren nehmen brasilianische Intellektuelle die von der CEPAL konzipierte Strategie der nationalen Entwicklung auf. In den Sechzigerjahren wird der bereits eingeschlagene Weg einer nationalen Entwicklungsstrategie durch die Machtübernahme der Militärs forciert. Ein Ende der Ungleichheit ist nicht in Sicht. Im Gegenteil, die Einkommenskonzentration nimmt zu und die nationale Entwicklungsstrategie scheitert. Ausgerechnet der spätere Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso sah bereits in den Siebzigerjahren die Grenzen dieser staatlichen Steuerung. Die brasilianische Zivilgesellschaft formiert sich. Noch 1985 führt er dazu aus: "Also können und de facto werden die langlebigen Sozialstrukturen durch soziale Bewegungen verändert" (226). Ob die traditionellen Machtstrukturen tatsächlich durch die sozialen Bewegungen selbst in Bewegung geraten, bleibt offen. Gerade die moderne, d. h. jüngere Modernisierungsforschung, die sich diesen Fragen stellt, ist noch nicht Gegenstand des Buches. Als Einstieg zum Verständnis der brasilianischen Ambivalenzen ist Sandkötters Dissertation dennoch hervorragend geeignet.
Inhaltsübersicht: 1. Theoretische Grundlegung: I. Sackgassen der Modernisierungsforschung; II. Paradigmenwechsel. 2. Das moderne Brasilien: III. Terminierungsvorschläge; IV. Sozialwissenschaftler: Professionelle Modernisierer; V. Tradition in der brasilianischen Moderne; VI. Der konservative Modernisierer: Gilberto Freyre; VII. Der erste marxistisch inspirierte Modernisierer: Caio Prado Junior; VIII. Modernisierung als nationaler Entwicklungsprozeß: ISEB; IX. Die rationalen Modernisierer mit der sozialistischen Vision: Escola Paulista; X. Resümee einer Debatte: Die alternativlose Moderne; XI. Die globale Moderne.
Bernhard Stelzl (BhS)
Politikwissenschaftler.
Rubrizierung: 2.65 | 2.2
Empfohlene Zitierweise: Bernhard Stelzl, Rezension zu: Stephan Sandkötter: Modernisierungsforschung in Brasilien Frankfurt a. M./New York: 1999, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/10493-modernisierungsforschung-in-brasilien_12406, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 12406
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Politikwissenschaftler.
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