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/ 04.06.2013
Wolf Linder

Schweizerische Demokratie. Institutionen - Prozesse - Perspektiven

Bern/Stuttgart/Wien: Verlag Paul Haupt 1999; 428 S.; geb., 65,- DM; ISBN 3-258-05803-2
Wem die 1994 erschienene Monographie "Swiss Democracy. Possible Solutions to Conflict in Multicultural Societies" (London) als übergreifende Darstellung des schweizerischen Regierungssystems bekannt ist, darf nach Linder mehr erwarten als eine Übersetzung. Der Band ist "thematisch breiter und wissenschaftlich systematischer aufgebaut" (6). Er richtet sich vor allem an Studierende, aber auch an Politiker, Journalisten und politisch Interessierte. Wie damals wird von der Grundthese ausgegangen, daß es eine Alternative zur Mehrheitsdemokratie angelsächsischer Prägung gibt: "Die Konsensdemokratie erlaubt besser als die Mehrheitsdemokratie, Konflikte einer multikulturellen Gesellschaft zu lösen" (6). Im geschichtlich orientierten einführenden Kapitel 2 arbeitet der Autor zwei Grundprobleme der schweizerischen Gesellschaft heraus: den Mangel an Erfahrung mit Gruppen außereuropäischer Herkunft und die Belastung der Sozialsysteme durch Migration. Die Kapitel 3 bis 11 beleuchten Institutionen und Entscheidungsprozesse des schweizerischen politischen Systems. Dem Autor gelingt hierbei der Mittelweg zwischen der Darstellung von Theorie und Praxis, also von theoretisch-abstrakter Einordnung von Institutionen und Prozessen und der Benennung des Ist-Zustandes. So werden die politischen Entscheidungsblockaden im föderalen Entscheidungssystem (am Beispiel der Kernenergiefrage [163]) genauso knapp und deutlich herausgearbeitet wie die Probleme des Parlaments, sich als Entscheidungsgremium gegen den Bundesrat und die einflußreiche Verwaltung zu behaupten (217 f., 301 ff.). Anhand des Bundesrats, der schweizerischen Regierung, zeigt Linder die "Anormalität" des Systems auf: "Es erscheint als Zwitter der beiden Grundmodelle" (219), also des präsidentiellen und des parlamentarischen Systems. Auch die vielfältigen Partizipationsmöglichkeiten durch Referenden werden übersichtlich zusammengestellt. Linder unterscheidet zwischen den Verfahren direkter Demokratie (Anwendung der Volksrechte, Volksentscheide) und der halbdirekten Demokratie als "Gesamtheit des Entscheidungssystems, in welchem Regierung, Parlament und Volk zusammenwirken. [...] Für einen solchen Typus der halbdirekten Demokratie bildet die Schweiz auf nationaler Ebene das einzige Beispiel" (236) und zugleich ein Gegenbeispiel zu den repräsentativen Systemen. Auch hier berücksichtigt der Autor aktuelle Reformbestrebungen, die eine Ausweitung der Volksrechte vorsehen (291 ff.). Die Referenden sind nach Linder ein Entstehungsfaktor für das System der "Konkordanz als System der Machtteilung und korporatistischer Interessenvermittlung" (295, Kapitel 11). Sie zwingen die Mehrheitskräfte zu einem Ausgleich mit den referendumsfähigen Gruppen. So sei ein neokorporatistisches System entstanden, das sich komplementär mit dem parlamentarischen Entscheidungssystem ergänze. Je nach politischer Lage sei das eine System integrationsfähiger als das andere. Hierin sieht Linder den Grund für die Leistungsfähigkeit des schweizerischen Systems auch in politischen Krisen: "Mängel der Integrationsfähigkeit des einen Teilsystems können aber durch das andere Teilsystem kompensiert werden." (305) Theoretischen Einwänden gegen das Konkordanzsystem hält der Autor empirische Erkenntnisse entgegen. So sei nicht belegt, daß die Schweiz weniger innovationsfreundlich sei als Mehrheitsdemokratien (321). In Kapitel 12 vergleicht Linder schweizerische mit US-amerikanischen Erfahrungen bezüglich der direkten Demokratie und zieht insgesamt eine positive Bilanz (328 ff.). Auf der Theorieseite stellt er Cronins Modell der "Sensiblen Demokratie" vor, einer Synthese aus repräsentativen und direktdemokratischen Elementen (335 ff.). In Kapitel 14 wird das Modell der Konsensdemokratie explizit als Lösungsmodell für ethnische Konflikte vorgestellt, bevor Linder sich abschließend den Entwicklungsperspektiven des schweizerischen Systems zuwendet. Der nationale Souveränitätsverlust durch Internationalisierung bzw. Globalisierung sei nicht aufzuhalten. Entscheiden könnten die Schweizer nur darüber, ob sie diesen Verlust als integrierte Mitglieder internationaler Organisationen auch anerkennen oder nicht (390). Inhaltsübersicht: 2. Durch politische Integration zur multikulturellen Gesellschaft; 3. Das Volk; 4. Parteien und Parteiensystem; 5. Verbände; 6. Soziale Bewegungen; 7. Föderalismus; 8. Das Parlament; 9. Die Regierung; 10. Direkte Demokratie; 11. Das Entscheidungssystem der Konkordanz; 12. Perspektiven direkter Demokratie; 13. Föderalismus im internationalen Vergleich; 14. Zur Bedeutung des Modells der Konsensdemokratie; 15. Zur Zukunftsfähigkeit der schweizerischen Institutionen.
Stefan Lembke (SL)
M. A., Politikwissenschaftler.
Rubrizierung: 2.52.212.22 Empfohlene Zitierweise: Stefan Lembke, Rezension zu: Wolf Linder: Schweizerische Demokratie. Bern/Stuttgart/Wien: 1999, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/5744-schweizerische-demokratie_7469, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 7469 Rezension drucken
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