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/ 05.06.2013
Wadim S. Rogowin

1937. Jahr des Terrors. Aus dem Russischen übersetzt von Hannelore Georgi und Harald Schubärth

Essen: Arbeiterpresse Verlag 1998 (Gab es eine Alternative? 4); 591 S.; geb., 58,- DM; ISBN 3-88634-071-6
Ein Buch über die "große Säuberung" in der Sowjetunion, noch dazu von einem russischen Wissenschaftler, der die nun endlich zugänglichen Archive ausgiebig nutzen kann, erweckt eine bestimmte Erwartung: Man erwartet die rückhaltlose Klärung der Stalin'schen Verbrechen vor dem Hintergrund ihrer historischen Genese, und das bedeutet nicht zuletzt, im Kontext der Ideologie, auf der der Terror ruhte. Über die Stalin'schen Verbrechen berichtet der Autor in der Tat; doch unversehens ist es Stalin allein, dem die zu Sowjetzeiten begangenen Greuel angelastet werden. Wie das? Ausgerechnet Lenin, der brutale Unterdrücker der ersten demokratischen Ansätze im nachzaristischen Rußland, wird als Orakel bemüht, um zu erklären, wie es zu den Verbrechen wider die Menschlichkeit kommen konnte. Lenin hatte 1921 prophezeit, daß es künftig nur zwei Möglichkeiten gebe. "10-20 Jahre richtige Beziehungen mit der Bauernschaft, und der Sieg ist im Weltmaßstab [...] gesichert, sonst 20-40 Jahre Qualen weißgardistischen Terrors." Noch versteht man nicht, schließlich waren es die Bolschewisten, die die Stalin'sche Säuberungspolitik ausführten. Doch der Autor liefert die Erklärung schnell nach. Es handelte sich um "in seinem Wesen weißgardistische[n] Terror" (14), dem die Elite der eigenen Partei, Wissenschaftler, hohe Militärs und andere in unvorstellbarer Zahl zum Opfer fielen. Jetzt versteht man. Man muß die Geschichte nur anders deuten als bisher. Oktoberrevolution und Bürgerkrieg, die sich "im Bewußtsein von Millionen sowjetischer Menschen mit Größe und Heldentum assoziieren" (23), waren so monumental, "daß die bürokratische Reaktion darauf (der Stalinismus) ebenfalls monumentalen Charakter annahm". Weil der Stalinismus die Ideale der Oktoberrevolution desavouierte, regte sich seitens derer, die dem Marxismus und "den revolutionären Traditionen des Bolschewismus" treu geblieben waren, heftiger Widerstand. "Und zur Unterdrückung dieses Widerstandes brauchte man eben den Terror, der in der Geschichte keine Analogien hinsichtlich seiner Ausmaße und seiner Bestialität kennt." (27) Der Stalinismus hat sich offenbar selbst gezeugt. Was vor ihm geschah, hat ihn anscheinend weder ermöglicht, noch darf es selbst dem Verdikt verfallen. Denn wenn Oktoberrevolution und Bürgerkrieg "ihr Ziel erreicht hätten, würde jeder unvoreingenommene Mensch die dargebrachten Opfer als gerechtfertigt ansehen" (24). Der voreingenommene Mensch hingegen hört auf die "Legenden, die von offenen Antikommunisten verbreitet wurden" (17), er reiht möglicherweise auch Lenin und Trotzki in die Reihe der Staatsterroristen ein, und er glaubt Solshenizyn, daß "Bürgerkrieg, Kollektivierung und Repression der Nachkriegsjahre" (23) nicht weniger schrecklich gewesen sind als der "große Terror". Es sei dem Leser überlassen, zu welcher Spezies er zählen möchte: ob er sich den Wahrheiten des Rogowin hingeben oder doch lieber zu den "reaktionäre[n] Kräfte[n]" (22) gehören möchte, die auch dann noch nach geschichtlichen Zusammenhängen suchen, wenn der ideologische Gegner den Weg dorthin mit Invektiven vermint hat.
Barbara Zehnpfennnig (BZ)
Prof. Dr., Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte, Universität Passau.
Rubrizierung: 2.62 Empfohlene Zitierweise: Barbara Zehnpfennnig, Rezension zu: Wadim S. Rogowin: 1937. Essen: 1998, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/7890-1937_10464, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 10464 Rezension drucken
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