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/ 31.05.2013
Friedhelm Hengsbach

Abschied von der Konkurrenzgesellschaft. Für eine neue Ethik in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft

München: Knaur 1995; 240 S.; 14,90 DM; ISBN 3-426-80073-7
Diese "Werbeschrift zur Wiederentdeckung der Kooperation" (10) wurde durch die Beobachtung "ungewöhnlicher Koalitionen" quer zu den herkömmlichen Konfliktlinien angeregt: das Arbeitszeitmodell von VW, die Einigung über das Jahressteuergesetz 1996 und die "zweispurige Vorgehensweise" (21) der Greenpeace-Strategen, die neben öffentlichkeitswirksamen Aktionen auch den kooperativen Lösungsweg suchten. Für Hengsbach, Professor für Christliche Sozialwissenschaft in Frankfurt a. M., sind dies Beispiele für eine wünschenswerte zukünftige "neue Ethik" (Untertitel) der Kooperation. Theoretisch werden alle Bereiche der politischen Willensbildung einbezogen und anschließend konkrete Politikfelder analysiert. Neue Kooperationen sind für Hengsbach angesichts der Defizite der Konkurrenzgesellschaft unausweichlich. Der Konkurrenzgrundsatz sei zwar Grundlage für gesellschaftlichen Wohlstand. In der Konkurrenzgesellschaft sei er allerdings "theoretisch freigesetzt und praktisch entfesselt worden" (38). Unter Rückgriff auf die Spieltheorie wird aufgezeigt, daß "unbegrenzte Konkurrenz allen Beteiligten schaden und Kooperation sich lohnen kann". Bedingung dafür sei die vertragliche Absicherung, daß alle Beteiligten sich an die Spielregeln halten. Diese Absicherung wiederum sei nur von Dauer - so die Einsicht der Diskursethik -, wenn sie als im gemeinsamen Interesse liegend erkannt werde und somit ethisch vertretbar sei (86). Wer sind für Hengsbach die Träger neuer Kooperationsformen? Im staatlichen Bereich zum einen die Parteien, denen er zunächst mit ungewöhnlich undifferenzierter Kritik begegnet: So beanspruchten sie "ein politisches Monopol" und "durchlöchern das Prinzip der Gewaltenteilung" durch die Aufspaltung des Parlaments in Regierungsfraktion und Opposition (93 f.). Fundierter erscheint die Kritik an Parteien und Verbänden in ihrem Verhältnis zur Öffentlichkeit: Sie gerieten "in bedenkliche Staatsnähe und gleichzeitige Bürgerferne und wirken so dabei mit, daß die staatliche Entscheidungskompetenz unter Ausschluß der Öffentlichkeit von den Parlamenten in die Netzwerke der politischen Funktionseliten verlagert wird" (96). So sollten nicht "der Staat oder die Wirtschaft, sondern die Zivilgesellschaft zum erstrangigen Akteur politischer Willensbildung aufrücken" (102). Konkret befürwortet Hengsbach soziale Bewegungen nach dem Vorbild der neuen sozialen Bewegungen. Partikulare Interessen, die von den Bewegungen vertreten würden, sollten zu allgemeinen Interessen gemacht werden, indem man sie "in die vorstaatliche Öffentlichkeit" zurückhole. Hengsbach hält dabei das kooperative Element für ausschlaggebend, denn letztendlich seien die zivilgesellschaftlichen kollektiven Akteure - wie die neuen sozialen Bewegungen es gezeigt hätten - "auf die Kooperation der staatlichen Akteure [...] angewiesen" (107). Diese im Kontext sehr funktionale Interpretation überzeugt nicht, eine realistischere drängt sich auf: Das kooperative Verhalten staatlicher Akteure gegenüber den neuen sozialen Bewegungen war primär durch deren zuvor in der Öffentlichkeit erkämpfte Bedeutung erzwungen. Kooperation konnte sich somit erst in einer durch Wettbewerb "geebneten" Situation entfalten. Gemeinsame Sichtweisen, Überzeugungen, Werte etc. bilden für Hengsbach einen notwendigen - normativen - "Kooperationsraum" (109 ff.). Sie seien Leitbilder eines Gesellschaftsvertrags, der in der Bundesrepublik - seit 1945 gekennzeichnet durch Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und sexistische Arbeitsteilung - brüchig geworden sei. Die Leitbilder der Zukunft: ein neues Verhältnis zu Leistung, zur Natur und auch zwischen den Geschlechtern. Anhand von vier - aktuellen und überaus konfliktträchtigen - potentiellen "Kooperationsfeldern" (149 ff.; Beschäftigungspakt, Generationenvertrag, Währungsabkommen, Arbeitszeitbündnis) sollen im letzten Drittel die praktischen Chancen und Barrieren für neue Kooperationen ausgelotet werden, was jedoch nur teilweise erfolgt. Es werden zwar politikfeldspezifische Mißstände und eigene Vorschläge griffig veranschaulicht. Allerdings bleiben Fragen des konkreten Verfahrens, der Realisierung offen: Wie könnten beispielsweise die zuvor angeregten sozialen Bewegungen in den angesprochenen Politikfeldern agieren, wie sollten sie jeweils beteiligt werden? Zwischen ethischen Postulaten und den konkreten policy-Problemen fehlt somit die Vermittlung, die beiden Fäden werden nicht zusammengeführt. Somit werden letztlich praktische Fragen nicht beantwortet, die sich bezüglich einer neuen Ethik der Kooperation stellen, die jedoch zweifellos den Rahmen der Monographie gesprengt hätten: Wer entscheidet wie was? Und wie kann man Gefahren kooperativer Arrangements wie z. B. einer Kartellbildung begegnen?
Stefan Lembke (SL)
M. A., Politikwissenschaftler.
Rubrizierung: 2.212.232.262.22 Empfohlene Zitierweise: Stefan Lembke, Rezension zu: Friedhelm Hengsbach: Abschied von der Konkurrenzgesellschaft. München: 1995, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/643-abschied-von-der-konkurrenzgesellschaft_450, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 450 Rezension drucken
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