/ 04.06.2013
Ulrich Bröckling / Michael Sikora (Hrsg.)
Armeen und ihre Deserteure. Vernachlässigte Kapitel einer Militärgeschichte der Neuzeit
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998; 322 S.; pb., 48,- DM; ISBN 3-525-01365-5Angesichts der immer noch schwebenden Debatte um die Wehrmachtsdeserteure und ihre Motive bietet der Sammelband einen wichtigen Einblick in die Geschichte der Desertion in Deutschland. "Ausgerissen" ist so mancher Söldner auch in der frühen Neuzeit, aber in der Regel aus Protest gegen den Kommandeur, der keinen Sold zahlte oder keine Kleidung lieferte etc. Der Begriff Desertion erhielt erst in den letzten zweihundert Jahren die Bedeutung eines Strafdelikts gegen den Staat, nach der Einführung der Wehrpflicht. Die "unerlaubte Entfernung von der Truppe", die mit zunehmender Schärfe geahndet wurde, war eine Folge des steigenden Rekrutenbedarfs und der Nationalisierung des Krieges. Das Strafmaß gegen den Deserteur eskalierte binnen weniger Jahrzehnte: Hatten deutsche Militärrichter im Ersten Weltkrieg noch wesentlich weniger Todesurteile gegen Deserteure verhängt als im Vergleich zu britischen und französischen Kollegen, so drehte sich das Verhältnis vor und im Zweiten Weltkrieg drastisch um. Während etwa 15.000 deutsche Soldaten hingerichtet wurden (nicht eingerechnet die Opfer der SS-Standgerichte), vollstreckte die US-Army z. B. nur ein einziges Todesurteil gegen einen Deserteur. Nach 1945 wurde das Thema Desertion nicht aufgearbeitet. Als in den achtziger Jahren die Diskussion um die Rehabilitierung der Deserteure den Handlungsbedarf aufzeigte - sie waren zwar von einem Unrechtsregime verurteilt worden, gelten aber trotzdem in der Bundesrepublik als vorbestraft -, brach die Verweigerungshaltung der Gesellschaft und der Politik nur langsam auf. Die Gruppe ist - wie die Autoren nachweisen - sehr inhomogen, und insofern macht es keinen Sinn, an einer pauschalen Betrachtungsweise von Desertion festzuhalten. Allerdings wird auch deutlich, daß nicht jeder durch die Desertion zum Widerstandskämpfer aus Überzeugung mutiert ist.
Inhalt: Reinhard Baumann: Protest und Verweigerung in der Zeit der klassischen Söldnerheere (16-48); Michael Kaiser: Ausreißer und Meuterer im Dreißigjährigen Krieg (49-71); Peter Burschel: Die Erfindung der Desertion. Strukturprobleme in deutschen Söldnerheeren des 17. Jahrhunderts (72-85); Michael Sikora: Das 18. Jahrhundert: Die Zeit der Deserteure (86-111); Michael Sikora: Desertion und nationale Mobilmachung. Militärische Verweigerung 1792-1813 (112-140); Sabrina Müller: "Lieber für Freiheit sterben als dem Fürsten zum Spott". Desertionen während der Revolution von 1848/49 (141-160); Ulrich Bröckling: Psychopathische Minderwertigkeit? Moralischer Schwachsinn? Krankhafter Wandertrieb? Zur Pathologisierung von Deserteuren im Deutschen Kaiserreich vor 1914 (161-186); Christoph Jahr: "Der Krieg zwingt die Justiz, ihr Innerstes zu revidieren". Desertion und Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg (187-221); Dieter Knippschild: Deserteure im Zweiten Weltkrieg: Der Stand der Debatte (222-251); Rüdiger Wenzke: Die Fahnenflucht in den Streitkräften der DDR (252-287); Ulrich Bröckling: Truppenflüchtler und Totalverweigerer. Fahnenflucht, Eigenmächtige Abwesenheit und Dienstentziehung in der Bundesrepublik (288-319).
Axel Gablik (AG)
Dr., Historiker.
Rubrizierung: 2.31 | 2.324
Empfohlene Zitierweise: Axel Gablik, Rezension zu: Ulrich Bröckling / Michael Sikora (Hrsg.): Armeen und ihre Deserteure. Göttingen: 1998, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/5580-armeen-und-ihre-deserteure_7272, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 7272
Rezension drucken
Dr., Historiker.
CC-BY-NC-SA