/ 09.04.2015
Jean-Claude Michéa
Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft. Aus dem Französischen von Nicola Denis
Berlin: Matthes & Seitz 2014; 191 S.; 19,90 €; ISBN 978-3-95757-015-4Der Liberalismus steht laut Michéa vor einem ihn gefährdenden Dilemma. Weil dem Einzelnen in einer liberalen Gesellschaft ein Konzept des guten Lebens nicht aufgezwungen werden dürfe, stehe es jedem frei, nach seinem Gutdünken derlei Auffassungen zu vertreten, solange die Freiheit der anderen, dies ebenso zu tun, nicht gefährdet werde. Im Liberalismus herrsche folglich das Primat des Gerechten gegenüber dem Guten. Sein Glaube an eine Gesellschaft ohne allgemeinverbindliche Werte lasse ihn gleichwohl zu einer Ersatzethik greifen, nämlich im Namen der Toleranz jede Form von Diskriminierung zu bekämpfen. Das liberale Recht zur Abgrenzung der individuellen Freiheitssphären verkehre sich somit in sein Gegenteil, weil es nunmehr dazu diene, in ebendiese einzugreifen, um Gerechtigkeit herzustellen. Im Namen der Freiheit werde die Freiheit beeinträchtigt und zugunsten der Gleichberechtigung werde diskriminiert, wie etwa das derzeit diskutierte Beispiel der Frauenquote belege. Die Tendenz zur Antidiskriminierung hebe, so Michéa, die liberale Gesellschaft damit im Kern auf. An die Stelle der Foucault'schen Disziplinargesellschaft trete damit nicht die Freiheit, sondern die Kontrollgesellschaft, in der Reklame für gesunde Ernährung als Diskriminierung von adipösen Menschen verstanden werde. Ferner lebe das liberal‑kapitalistische System von Bedingungen, die es selbst nicht garantieren könne, die es aber zunehmend verbrauche, auch bekannt als Böckenförde‑Diktum. An die Stelle des sich selbst aufhebenden Liberalismus will Michéa einen konservativen Sozialismus setzen, der einen Rahmen für die Entwicklung von common decency bietet. Freilich vernachlässigt er die demokratische Komponente liberaler Gesellschaften; Michéa scheint indes den Liberalismus des 19. Jahrhunderts in seiner vorrangig konstitutionellen Ausprägung vor Augen zu haben. Das Buch ist als ein Appell an die politische Linke zu verstehen, sich wieder zu allgemeinverbindlichen Werten zu bekennen und den Kampf für eine bloß negative Freiheit nicht als zentralen Ort politischen Engagements zu begreifen.
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Rubrizierung: 5.42 | 5.43 Empfohlene Zitierweise: Patrick Stellbrink, Rezension zu: Jean-Claude Michéa: Das Reich des kleineren Übels. Berlin: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/38274-das-reich-des-kleineren-uebels_46527, veröffentlicht am 09.04.2015. Buch-Nr.: 46527 Inhaltsverzeichnis Rezension druckenCC-BY-NC-SA