/ 10.03.2016
Jacques Derrida
Das Tier und der Souverän I. Seminar 2001-2002. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek. Hrsg. von Peter Engelmann, Michael Lisse, Marie-Louise Mallet und Ginette Michaud
Wien: Passagen Verlag 2015 (Passagen Forum); 542 S.; brosch., 65,- €; ISBN 978-3-7092-0134-3„Das Seminar unter dem Titel ‚La bête et le souverain’ [...] war das letzte, das Jacques Derrida vom Herbst 2001 bis zum Frühjahr 2003 an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris gehalten hat.“ (15) Seine Veröffentlichung bildet den Auftakt zur im Passagen Verlag avisierten Gesamtausgabe der Seminare und Vorlesungen des Philosophen. Im Zentrum dieses Bandes steht die Frage nach dem Wesen und der politischen Qualität der Souveränität. ‚La bête’ kann im Französischen zweierlei bedeuten: Tier und Bestie. Mit Blick auf die nähere Bestimmung dessen, was menschliche Gemeinschaft ist, konzentriert sich Derrida auf letztere Bedeutung – und dabei konkret auf den Wolf. Es ist das Recht des Stärkeren, das solche Gemeinschaften ausmacht, wie insbesondere schon Hobbes hervorgehoben hat. Angeführt wird eine solche archaische Vielheit von Menschen durch eine Führungsfigur, die dieses Recht auszuüben versteht. Auf die politische Gemeinschaft, die Polis, projiziert, erweist sich die Souveränität als begriffliche Entsprechung dieses Rechts des Stärkeren: „Das Soziale, das Politische, und in ihnen der Wert oder die Ausübung der Souveränität, sind nur verkleidete Manifestationen der animalischen Kraft oder reiner Gewaltkonflikte, deren Wahrheit, das heißt im Grunde deren Bestialität oder Barbarei oder unmenschliche Grausamkeit, uns die Zoologie liefert.“ (37 f.) Derridas Politikverständnis, das den Wolf und nicht das Lamm zum Paradigma souveräner Herrschaft erhebt, verabschiedet damit die aristotelische Tradition, die den Menschen als sprach‑ und gesellschaftsbegabtes Tier konzipiert, zugunsten einer auf sich selbst zurückgeworfenen Ontologie: „Der Souverän, das ist jemand, der sein Ziel in sich selbst hat oder der das Ziel von allem ist.“ (468) Die Vorlesung, die unmittelbar in die Zeit nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 fällt, erweist sich als ein unglaublich reicher Fundus philosophischen Denkens, das die griechische Antike, die europäische Moderne und die französische Gegenwartsdiagnostik streift. Das macht die Lektüre zu einem Streifzug nicht nur durch Derridas Denken, sondern durch die Philosophie‑ und Kulturgeschichte Europas insgesamt. Etwas – aber nur etwas – erschwert wird der Umgang mit den Texten der einzelnen Sitzungen dadurch, dass die Anmerkungen gesammelt am Ende des Bandes, aber nicht, wie etwa bei den Vorlesungen von Foucault oder Bourdieu, die bei Suhrkamp erschienen sind, nach jeder einzelnen Vorlesung angeordnet sind.
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Rubrizierung: 5.46 | 5.42 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Jacques Derrida: Das Tier und der Souverän I. Seminar 2001-2002. Wien: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/39505-das-tier-und-der-souveraen-i-seminar-2001-2002_47256, veröffentlicht am 10.03.2016. Buch-Nr.: 47256 Inhaltsverzeichnis Rezension druckenCC-BY-NC-SA