/ 30.01.2014
Ingo Zimmermann
Dass Auschwitz nicht noch einmal sei ... Drei Vorlesungen
Essen: Die Blaue Eule 2013 (Kritische Theorie und Kritische Praxis 2); 99 S.; 14,- €; ISBN 978-3-89924-373-4Nachzulesen sind drei Vorlesungen, die Ingo Zimmermann, Katholische Hochschule Nordrhein‑Westfalen, während eines Seminars in der Gedenkstätte Auschwitz gehalten und mit Studierenden diskutiert hat. Die Eindrücke, die man dort sammelt, finden sich allerdings nicht in den Vorlesungstexten wieder, was bedauerlich ist – es wäre spannend gewesen zu sehen, wie der tatsächliche Ort (oder Nicht‑Ort, wie Zimmermann ausführt) auf die Theorie zurückwirkt. So aber bleibt man, wenn man die Ruinen der Gaskammern in Auschwitz‑Birkenau vor Augen hat, doch ratlos vor Zimmermanns These stehen, unsere ganze Welt sei dabei, sich in ein Lager zu verwandeln. Nur ein Studierender weist darauf hin, dass man nicht vergessen dürfe, „was die Menschen in den Konzentrationslagern als Individuen […] für unvorstellbares Leid erlitten haben, das wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können“ (94). Zimmermann aber argumentiert auf abstrakter Ebene, bei ihm bleiben die Opfer namenlos – obwohl sie es nicht sind, in einem der Gebäude im Museum Auschwitz hängen Porträts der Gefangenen mit Namen, Einlieferungs‑ und Todesdatum. Die erste Vorlesung dreht sich um verfassungsrechtliche und philosophische Begründungen der Menschenwürde; ihre Verletzung müsse nunmehr „lediglich mit der ethisch illegitimen Beschneidung menschlicher Autonomie und Instrumentalisierung“ (21) definiert werden. Die zweite Vorlesung über „Das Lager“ thematisiert unter anderem „ein Außen und ein Innen“ (44), wobei mit der Entmenschlichung und Entindividualisierung im Inneren des Lagers dieses zu einem „ortlosen Gebiet“ (45) werde. „Die Wiederkehr“ des Lagers wird in der dritten Vorlesung nicht nur für Orte wie „Guantanamo, Abu Ghuraib und Lampedusa“ (74) behauptet, sondern für die (fast) ganze Welt. Zur Begründung heißt es, die Lebenswelten würden prekarisiert durch „neoliberale[.] und marktkonforme[.] Inszenierungen sowie eine weltumspannende kapitalistische Logik der allseitigen Verwertung“ (75), entsprechend ist ein Foto eines Wohnblocks für sozial schwache Menschen mit „Das Wohnsilo als Lager der Moderne“ (87) betitelt – den Bewohnern werden ebenso wie denen von Reihenhaussiedlungen denn auch gleich ihre individuellen Möglichkeiten abgesprochen. Die theoretische Erörterung bleibt insgesamt eher an der Oberfläche, eine explizite Bezugnahme auf und Auseinandersetzung mit den (Lager‑)Texten Giorgio Agambens fehlen, die zwei vorangestellten Zitate bieten da keinen Ersatz. Die Feststellung schließlich, dass die Welt zu einem Lager werde, dessen gesellschaftliches Außen „gegenwärtig im Verschwinden begriffen ist“ (89), bleibt eine bloße Behauptung, die man im Angesicht von Auschwitz zynisch finden kann.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 5.42 | 2.25 | 2.35 | 2.312
Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Ingo Zimmermann: Dass Auschwitz nicht noch einmal sei ... Essen: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/36663-dass-auschwitz-nicht-noch-einmal-sei-_44629, veröffentlicht am 30.01.2014.
Buch-Nr.: 44629
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Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
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