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/ 17.09.2015
Bedrich Loewenstein

Der Fortschrittsglaube. Europäisches Geschichtsdenken zwischen Utopie und Ideologie

Darmstadt: WBG Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015; 520 S.; 49,95 €; ISBN 978-3-534-26666-1
Der Historiker Bedrich Loewenstein zieht in diesem Essay eine Bilanz aus mehr als einem halben Jahrhundert des Nachdenkens über Geschichte und Gesellschaft und stellt dabei den Glauben an den Fortschritt in den Mittelpunkt – gerade im 20. Jahrhundert sei der Fortschritt ein allgegenwärtiges Schlagwort gewesen, das eine mobilisierende, aber auch dichotomisierende Qualität besessen und die Hoffnung „auf einen Aufbruch in Neues und Besseres“ (8) vermittelt habe. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten auch die Kommunisten die Fortschrittsidee mit Vehemenz und einigem Geschick für sich in Beschlag genommen und beansprucht, damit den Schlüssel zur Zukunft zu besitzen. Loewenstein zeigt, dass es sich dabei ideengeschichtlich um keine Selbstverständlichkeit handelt: Das griechisch‑römische antike Denken war eher an Vorstellungen der ewigen Wiederholung orientiert, auf den „immer gleichen Naturprozess“ (29) von Entstehung und Niedergang. Auch in mittelalterlichen Gesellschaften war eine „weltliche Fortschrittsdynamik“ unvorstellbar, wenngleich Elemente einer „Hochschätzung menschlicher Arbeit und des Willens im weiten Sinne“ (54) und ein lineares Zeitverständnis durchaus vorhanden waren. Im neuzeitlichen Europa entwickelten diese sich zur Kraftquelle, womit in der Neuzeit die Vernunft in den Mittelpunkt rückte. Aber noch in Hobbes‘ „mechanistische[r] Psychologie“ (101) war Macht zentral, Vernunft hingegen eine rein instrumentale Kraft. Auch für Kant war Fortschritt kein Wissen, nur ein „‚heuristischer Vorschlag‘“ (210), um den Zustand des ewigen Friedens zu stiften. Trotz ihres Realismus sei Kants Geschichtsphilosophie eine Anleitung zum Handeln, schreibt Loewenstein. Frieden zu stiften gelinge aber „in der Regel nur, wenn das Politische als Sphäre des Relativen respektiert“ (403) werde; Lenins Perspektive dagegen habe zwar auf einer an sich plausiblen, aktivistisch interpretierten Marx‑Orthodoxie beruht, in seinem Vertrauen auf „die Moralität revolutionärer Gewalt“ allerdings die „altbekannte historische Dialektik von Mitteln und Ziel, Intention und Ergebnis“ (403) vergessen. Loewenstein resümiert, Fortschritt sei zumeist heterogen, uneindeutig und immer gefährdet. Die Aufarbeitung der Wege und Irrwege des Fortschrittsglaubens könne auf der Suche nach produktiven Auswegen aus den Sackgassen der heutigen Welt Tiefenschärfe und Problembewusstsein erzeugen. Denn es sei „alles andere als gleichgültig, worauf sich die Menschen beziehen, wofür sie sich selbst halten“ (10). Fortschritt und Bewahrung stehen also in einer engen Beziehung. Es sind gerade diese geschichtsphilosophischen, epochenübergreifenden Überlegungen, wohl reflektiert und mit realgeschichtlichen Kontexten konfrontiert, die Loewensteins Essay so lesenswert machen.
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Rubrizierung: 2.612.235.1 Empfohlene Zitierweise: Hendrik Simon, Rezension zu: Bedrich Loewenstein: Der Fortschrittsglaube. Darmstadt: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/38869-der-fortschrittsglaube_47021, veröffentlicht am 17.09.2015. Buch-Nr.: 47021 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken
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