/ 21.06.2013
Patrick Desbois
Der vergessene Holocaust. Die Ermordung der ukrainischen Juden. Eine Spurensuche. Aus dem Französischen von Hainer Kober
Berlin: Berlin Verlag 2009; 303 S.; 22,90 €; ISBN 978-3-8270-0826-8„Die Nationalsozialisten haben alles zugrunde gerichtet. Wunderschöne grüne Landschaften wurden zu Mordfeldern und die ukrainischen Kinder zu Handlangern des Todes“ (113). – In der Ukraine gab es während des Zweiten Weltkrieges keine Gaskammern, die Deutschen erschossen jeden Juden, jede Jüdin und jedes jüdische Kind einzeln. Dies geschah nicht versteckt in den Wäldern, sondern in den Dörfern, mehr noch: Viele der Dorfbewohner, Frauen, Männer, aber auch Kinder und Jugendliche, wurden zu Augenzeugen oder sogar zwangsverpflichtet und mussten die Gruben für die Toten, die ihre Nachbarn gewesen waren, ausheben, deren Kleidung sortieren oder für die Täter kochen. Nach dem Krieg blieben diese Menschen hilflos zurück und fragen sich heute noch, „ob sie schuldig oder unschuldig sind“ (91), obwohl viele zum Zeitpunkt der Geschehnisse erst sechs Jahre oder kaum älter waren. Zwar begann nach dem Abzug der deutschen Truppen eine sowjetische Kommission mit der Dokumentation der Gewalttaten, viele der Augenzeugen aber wurden erst sechs Jahrzehnte später zum ersten Mal befragt – von Desbois, Priester und Beauftragter der französischen Bischofskonferenz und des Erzbischofs von Paris für den Dialog mit dem Judentum. In diesem Buch berichtet er von dem Holocaust in der Ukraine und schildert nicht nur die Entdeckung der fast unzähligen Massengräber, sondern auch den Weg der Recherche und die Bekanntmachung der für die weitere Forschung bedeutsamen Erkenntnisse – aber auch die persönlichen Motive, die ihn auf diese Spurensuche lenkten: Desbois’ Vater war während des Krieges als französischer Kriegsgefangener in einem Straflager in der Ukraine interniert und hatte andeutungsweise von den Verbrechen berichtet. Dieser persönliche Zugang zu dem Thema lässt keine Distanz zu den Schilderungen aufkommen und Desbois verbindet dadurch, dass er die nun meist hochbetagten Augenzeugen zu Wort kommen lässt, Vergangenheit und Gegenwart.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 4.1 | 2.61 | 2.312
Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Patrick Desbois: Der vergessene Holocaust. Berlin: 2009, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/30363-der-vergessene-holocaust_36035, veröffentlicht am 03.03.2009.
Buch-Nr.: 36035
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Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
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