/ 05.06.2013
Gerd Koenen / Lew Kopelew (Hrsg.)
Deutschland und die Russische Revolution 1917-1924
München: Wilhelm Fink Verlag 1998 (West-östliche Spiegelungen 5); 952 S.; Ln., 128,- DM; ISBN 3-7705-3184-1In seinen Betrachtungen eines Unpolitischen beschreibt Thomas Mann die Zusammengehörigkeit von Rußland und Deutschland. Der russische Germanist und Historiker Kopelew wählte diesen Gedanken von der deutsch-russischen Wahlverwandtschaft zum Leitmotiv des 1982 begonnenen Wuppertaler Projektes zur Erforschung der Geschichte deutsch-russischer Fremdenbilder von den Anfängen bis zum 20. Jahrhundert. Als Ergebnis der "West-östlichen Spiegelungen" liegt nun ein achter Band vor, in dem die Zeitperiode von Beginn der russischen Revolution im Februar/März 1917 bis zu Lenins Tod im Januar 1924 untersucht wird. Diese Zeit lenkt "den Blick in besonderer Weise auf die unmittelbare Verklammerung von Weltkrieg, Revolution und Nachkrieg" (10). Dem Ansatz des Projektes treu, das "auf die Untersuchung langwirkender, geschichtlich tief verwurzelter nationaler Stereotypen ausgerichtet ist" (11), kreist der Band vier Themenbereiche ein: die Reaktion der deutschen politischen Klasse auf die russische Revolution, ihren Niederschlag in der Wissenschaft, dem Geschichtsdenken und der Öffentlichkeit, ihre Prägungen im Bereich der Kunst, Kultur und Literatur sowie einigen Überlegungen und Reflexionen zur Langzeitwirkung der russischen Revolution. Die Beiträge erreichen in ihrer Anzahl, thematischen Differenziertheit und Vielschichtigkeit eine synoptische Bündelung, die im besonderen Maße ihren Erkenntnisgewinn ausmachen. Hinzu kommt der bibliographische Informationsgewinn, denn der Band faßt erstmalig über 1.100 Titel deutschsprachiger Literatur über Rußland und den Bolschewismus der Jahre 1917-1924 in einer vollständigen und sachlich gegliederten Gesamtbibliographie zusammen. Somit sind das Projekt und seine Publikationen ein wesentlicher Beitrag zur Erforschung der deutsch-russischen Geschichte, der zum Lernen aus der Geschichte auffordert. "Die deutsch-russische Geschichte gibt dazu Mahnungen und Anregungen wie keine andere" (826) formuliert der im Juni 1998 verstorbene Kopelew.
Inhalt: Lew Kopelew / Gerd Koenen: Verlorene Kriege, gewonnene Einsichten. Rückblick vom Ende eines Zeitalters. Ein Gespräch (15-46). I. Weltkrieg und Weltrevolution: Gerd Koenen: Vom Geist der russischen Revolution. Die ersten Augenzeugen und Interpreten der Umwälzungen im Zarenreich (49-98); Jürgen Zarusky: Vom Zarismus zum Bolschewismus. Die deutsche Sozialdemokratie und der "asiatische Despotismus" (99-133); Helmut Fleischer: Zwischen Marx und Lenin. Rosa Luxemburg und die russische Revolution (134-164); Johannes Baur: Die Revolution und "Die Weisen von Zion". Zur Entwicklung des Rußlandbildes in der frühen NSDAP (165-190); Louis Dupeux: Im Zeichen von Versailles. Ostideologie und Nationalbolschewismus in der Weimarer Republik (191-218); Leonid Luks: "Eurasier" und "Konservative Revolution". Zur antiwestlichen Versuchung in Rußland und in Deutschland (219-239); Gerd Koenen: Die "Völkerwanderung von unten". Walther Rathenau über Rußland und Sowjets (240-274). II. Zusammenbruch und Aufbruch: Hans-Christof Kraus: "Untergang des Abendlandes". Rußland im Geschichtsdenken Oswald Spenglers (277-312); Gerd Koenen: Betrachtungen eines Unpolitischen. Thomas Mann über Rußland und den Bolschewismus (313-379); Dittmar Dahlmann: Theorie im Handgemenge. Die russische Revolution in der Kritik der deutschen Soziologie und Geschichtswissenschaft (380-407); Rainer Marwedel: "Bismarck" Lenin und die Deutsche Reichs-AG. Maximilian Hardens russische Kalkulationen (408-430); Walter Fähnders: Zwischen ästhetischer und politischer Avantgarde. Franz Jung und seine "Reise(n) in Rußland" (431-461); Michael Rohrwasser: Das rettende Rußland. Erweckungserlebnisse des jungen Johannes R. Becher (462-481); Karol Sauerland: Von Dostojewskij zu Lenin. Georg Lukács' und Ernst Blochs frühe Auseinandersetzungen mit dem revolutionären Rußland (482-502); Konstantin Asadowski: "Blick ins Chaos". Hermann Hesse über Dostojewskij und Rußland (503-526); Aaron J. Cohen: Revolution und Emanzipation. Bilder der russischen Frau in der deutschen Öffentlichkeit (527-553). III. Begegnungen und Prägungen: Gerd Koenen: "Indien im Nebel". Die ersten Reisenden ins "neue Rußland". Neun Modelle projektiver Wahrnehmung (557-616); Edgar Lersch: Hungerhilfe und Osteuropakunde. Die "Freunde des neuen Rußland" in Deutschland (617-645); Fritz Mierau: Wind vom Kaukasus. Die Russen in Berlin. Begegnungen und Entfremdungen (646-675); Oksana Bulgakowa: Zar Iwan, Raskolnikoff, rote Matrosen. Russische "Wellen" im deutschen Film (676-702); Wladimir Koljasin: Theater und Revolution. Glanz und Elend der deutsch-russischen Künstlerbeziehungen (703-732); Marina Dmitriewa-Einhorn: Zwischen Futurismus und Bauhaus. Kunst der Revolution und Revolution in der Kunst (733-759). IV. Einblicke und Ausblicke: Gerd Koenen: Bilder mythischer Meister. Zur Aufnahme der russischen Literatur in Deutschland nach Weltkrieg und Revolution (763-789); Karl Schlögel: Archäologie totaler Herrschaft. Rußland im Horizont Hannah Arendts (790-804); Lew Kopelew: Fragen bleiben (805-826); Gerd Koenen: Blick nach Osten. Versuch einer Gesamt-Bibliographie der deutschsprachigen Literatur über Rußland und den Bolschewismus 1917-1924 (827-934).
Wilhelm Johann Siemers (Sie)
Dipl.-Politologe, Journalist, Redakteur der Sprachlernzeitschrift vitamin de, Florenz.
Rubrizierung: 2.62 | 2.25 | 2.311
Empfohlene Zitierweise: Wilhelm Johann Siemers, Rezension zu: Gerd Koenen / Lew Kopelew (Hrsg.): Deutschland und die Russische Revolution 1917-1924 München: 1998, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/7891-deutschland-und-die-russische-revolution-1917-1924_10465, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 10465
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Dipl.-Politologe, Journalist, Redakteur der Sprachlernzeitschrift vitamin de, Florenz.
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