Skip to main content
/ 04.06.2013
Jean Ziegler

Die Barbaren kommen. Kapitalismus und organisiertes Verbrechen. Aus dem Französischen von Hanna van Laak

München: C. Bertelsmann 1998; 282 S.; 39,90 DM; ISBN 3-570-00133-4
Die organisierte Kriminalität stellt das höchste Stadium und die Essenz der kapitalistischen Produktionsweise dar! Diese These vertritt der Schweizer Soziologe Ziegler, der mit seinem Buch vor der Bedrohung der demokratischen Gesellschaften durch die "Armeen des organisierten Verbrechens" warnen möchte. Aus diesem Grund bietet das in fünf Teile gegliederte Werk auch weniger eine theoretische Analyse des kapitalistischen Systems und dessen Relevanz für die Kriminalitätsentwicklung als vielmehr eine Beschreibung dessen, was (vom Autor) unter organisiertem Verbrechen verstanden wird. Mit Blick nach Italien, den USA und ganz besonders nach Osteuropa beschreibt Ziegler im zweiten und dritten Kapitel Genesen, Erscheinungsformen und Methoden der "Barbaren". Im vierten Teil verdeutlicht er - am Beispiel der internationalen Bankenwelt - die Gefahren einer Unterwanderung legaler Wirtschaftssysteme durch die "nachtschwarzen Ungeheuer". Eingeleitet wird das Buch durch ein allgemeines, theoretisches Kapitel, in dem Ziegler vor allem seine These erläutert: Globalisierung und Neoliberalismus führten zu einer Schwächung des Immunsystems der demokratischen Gesellschaften, weil moralische Normen und staatliche Gesetze durch sie diffamiert, wirtschaftliche Abläufe naturalisiert und die schrankenlose Freiheit des Individuums verherrlicht würden. Der Kapitalist, der dem Verbrecher zwar mit spontanem Abscheu begegne, ihn zugleich aber um seine Freiheit, um die Höhe seiner Profite und um das wahnwitzige Tempo seiner Geldanhäufung beneide, würde anfällig für die Verlockungen der "Herrscher des Verbrechens". Der Frage, wie der organisierten Kriminalität Einhalt geboten werden kann, wendet sich der Autor im letzten Kapitel zu. Hier propagiert Ziegler zunächst eine Reihe repressionsorientierter Maßnahmen (u. a. Verdeckte Ermittlung, Lauschangriff, Einsatz der Geheimdienste), wobei er hauptsächlich mit Einzelfällen aus der Praxis und Expertenmeinungen argumentiert, die allerdings primär aus den administrativ-repressionsorientierten Institutionen selbst stammen. Dann aber erklärt er diese kurzerhand nicht nur für nicht ausreichend - was noch wenig überrascht, da sie an dem zuvor ausgemachten Bedingungsgefüge organisierter Kriminalität vorbeilaufen -, sondern genau genommen sogar für kontraproduktiv: Denn, so Ziegler einmal mehr dramatisierend, die organisierte Kriminalität gleiche einer Hydra (265 f.). Notwendig sei daher vielmehr eine Rückkehr der demokratischen Gesellschaften "zu ihren grundlegenden Werten, zur Wahrung ihres Schicksals als kollektiver Bestimmung und zu gemeinsamen, von Solidarität und Gerechtigkeit bestimmten Verhaltensweisen", die Bereitschaft zu einem "Verzicht auf Profit um jeden Preis" (265). Wie sich die Gesellschaft in diesem Sinne therapieren ließe, erläutert Ziegler mit einem Satz: "Die Verstärkung der Volksrechte, die öffentliche Kontrolle über die Regierenden und vor allem eine rasche, gründliche Demokratisierung der Wirtschaft sind effiziente Waffen im Kampf gegen die Hydra." (266) Aufgrund der oftmals anzutreffenden Oberflächlichkeit der Ausführungen, ihres begrenzten theoretischen Gehalts, des schwachen Quellennachweises und nicht zuletzt wegen des unangenehmen, reißerischen Boulevard-Stils, der bisweilen auch dazu geeignet scheint, Vorurteile und Klischees zu stärken ("Die Rote Armee - Wiege der Mörder" [139]), Feindbilder zu bestätigen, dürfte das Buch insgesamt eher den Stammtischdiskutanten als den Sozialwissenschaftler befriedigen.
Detlef Lemke (Le)
Dipl.-Politologe.
Rubrizierung: 2.2632.2624.432.3432.342 Empfohlene Zitierweise: Detlef Lemke, Rezension zu: Jean Ziegler: Die Barbaren kommen. München: 1998, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/4019-die-barbaren-kommen_5710, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 5710 Rezension drucken
CC-BY-NC-SA