/ 03.06.2013
Oliver Schwinn
Die Finanzierung der deutschen Einheit. Eine Untersuchung aus politisch-institutionalistischer Perspektive
Opladen: Leske + Budrich 1997; 236 S.; kart., 48,- DM; ISBN 3-8100-1845-7Die Studie untersucht den Verlauf und die Bestimmungsfaktoren der Finanzpolitik im Einigungsprozeß auf der Grundlage eines politisch-institutionalistischen Ansatzes. Die Inhalte staatlicher Tätigkeit werden nach diesem Erklärungsmodell davon bestimmt, "daß die Akteure in einem jeweils spezifischen institutionellen Rahmen Situationsdeutungen der Realität vornehmen, in Problemwahrnehmungen und/oder Zielformulierungen übersetzen und zum Erreichen dieser Ziele von durch eben diesen Rahmen restringierten Wahlfreiheiten und Entscheidungsalternativen unter den Bedingungen begrenzter Rationalität Gebrauch machen. Besondere Erklärungskraft erlangt dieser Ansatz in einer erweiterten Variante, die auch politische Ideologie und die Machtverteilung zwischen Parteien und sozialen Gruppen sowie verschiedene Barrieren gegen die Durchsetzung von Mehrheitsherrschaft nach dem Westminster-Modell berücksichtigt" (10).
Das Experiment der deutschen Einheit bietet Sozialwissenschaftlern eine günstige Gelegenheit, vorhandene Erkenntnisse über die Regierungspraxis der Bundesrepublik in historisch-konzentrierter Form zu überprüfen. Der Autor zeigt zu Beginn, daß die Finanzbestimmungen des zweiten Staatsvertrages - aufgrund der besonderen Struktur des Einigungsprozesses - der Bundesregierung einen ungewöhnlich großen Handlungsspielraum eingeräumt haben. Abgesehen von den Streitpunkten mit den Ländern folgte die Regelung der Finanzierungsfragen fast vollständig den Vorstellungen der Regierung, was zu einem unterkomplexen Problemlösungsverhalten beigetragen, die Politik aber gerade dadurch handlungsfähig gehalten hat. Trotz seines semisouveränen Charakters (Peter Katzenstein) war der Staat der Bundesrepublik in der Anfangsphase des Einigungsprozesses in der Lage, genügend Zentralisierungsreserven zu mobilisieren, um die staatliche Einheit in kürzester Zeit herzustellen. In der nachfolgenden Anpassungsphase wirkte die institutionelle Differenzierung des bundesdeutschen politischen Systems als "gigantischer Problemzerstäuber" (Roland Czada). Die Kosten der Einheit wurden zeitlich gestreckt, segmentiert und auf verschiedene Ebenen und Träger so verteilt, daß sich die Belastung für die Betroffenen in Grenzen hielt. Der Weg über die Schuldenfinanzierung bot eine konfliktarme Möglichkeit, die Wucht des Einigungsschocks abzufangen.
Für die "neue" Bundesrepublik konstatiert der Autor eine weitgehende Kontinuität im Blick auf die dominanten politischen Entscheidungsmuster, die er als "inkrementalistische Anpassungsprozesse" charakterisiert. Das positive Urteil bezieht die ob ihrer Schwerfälligkeit oft kritisierten Strukturen des Verbundföderalismus ausdrücklich mit ein. Entgegen anderslautenden Befürchtungen sei es den Ländern gelungen, einer schleichenden Aushöhlung des Föderalismus durch den Bund zuvorzukommen. Alles in allem habe die Finanzierung der deutschen Einheit gezeigt, daß komplexe Verhandlungslösungen in einem fragmentierten Entscheidungssystem nicht notwendigerweise schlechtere Ergebnisse zeitigen als der zentralistische Durchgriff eines hierarchischen Verwaltungsstaates (194).
Frank Decker (FD)
Prof. Dr., Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Universität Bonn.
Rubrizierung: 2.331 | 2.342 | 2.343 | 2.313
Empfohlene Zitierweise: Frank Decker, Rezension zu: Oliver Schwinn: Die Finanzierung der deutschen Einheit. Opladen: 1997, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/3303-die-finanzierung-der-deutschen-einheit_4320, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 4320
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Prof. Dr., Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Universität Bonn.
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