/ 04.06.2013
Georg Vielmetter
Die Unbestimmtheit des Sozialen. Zur Philosophie der Sozialwissenschaften
Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 1998 (Theorie und Gesellschaft 41); 376 S.; kart., 78,- DM; ISBN 3-593-35992-8Diss. FU Berlin; Gutachter: P. Bieri, H. Tetens. - Die zentrale Frage der Studie ist die "nach dem epistemischen Status der Sozialwissenschaften", danach, wie diese "was für ein Wissen wovon" (16) erzeugen. Die Problemstellung wird aus einer in erster Linie an der Philosophie Willard V. O. Quines orientierten Perspektive verfolgt. Quines sprach- und erkenntnisphilosophische Befunde werden auf die Erkenntnissituation der Sozialwissenschaften angewandt. Dies führt Vielmetter zu einer interessanten Theorie sozialwissenschaftlichen Verstehens, die sich als naturalistisch bezeichnet und ein gänzlich anderes Design besitzt als etwa die an Gadamer anschließenden hermeneutischen Positionen. Vielmetters Theorie des Verstehens läßt sich von der Einsicht leiten, daß sozialwissenschaftliche Erklärungen in gewissem Sinne erweiterte alltagspsychologische Erklärungen darstellen. Der Modus sozialwissenschaftlichen Erklärens sind Simulationen, mittels derer sich ein Verständnis des Verhaltens anderer aus angeborenen Mechanismen des Mit- und Nacherlebens mentaler Zustände von Artgenossen ergibt. Das intuitive Verstehen wird in der Sozialwissenschaft um andere Erklärungskomponenten (empirisches, semantisches und theoretisches Wissen aller Art) ergänzt (231 ff.). Aus dieser naturalistischen Theorie empathischen Verstehens ergeben sich im Verein mit den an Quine anknüpfenden philosophischen Überlegungen unterschiedliche Konsequenzen. So kommt Vielmetter beispielsweise zu dem Ergebnis, daß es eine gegenüber anderen ausgezeichnete sozialwissenschaftliche Methode nicht geben kann. Es macht "keinen Sinn, von der einen wahren Theorie, der einen richtigen Methode oder dem einzig angemessenen Forschungsprogramm in den Sozialwissenschaften zu sprechen" (297). Diesen postempiristischen Pluralismus grenzt Vielmetter ausdrücklich gegenüber postmodernen Positionen ab.
Seine außerordentlich komplexe Studie ist aus traditionelleren Perspektiven heraus betrachtet in vielerlei Hinsicht provokativ. Dies gilt namentlich für seine These, daß es keinen Grund gebe, "die Existenz distinkter sozialer Realitäten zu behaupten" (26, siehe 127 ff., 161 f., 206 f., 212, 229 f., 342 f.). Die Überlegung resultiert aus Vielmetters Interpretation der Quineschen Unbestimmtheitsthese und ist an eine bestimmte Version des philosophischen Holismus und der Theorie der Sprachaneignung geknüpft. Mit seiner Auffassung wendet sich der Autor gegen die fundamentalen Annahmen einer realistischen Sozialtheorie, für die Denker wie Charles Taylor, Peter Winch und Alfred Schütz, nach Vielmetters Interpretation auch Jürgen Habermas, exemplarisch sind. Für den Autor gibt es allein eine physisch-materiale Welt, in der soziale Entitäten nicht vorkommen. Damit ist das Unternehmen der Sozialwissenschaften für Vielmetter keineswegs in Frage gestellt, wie seine Theorie sozialwissenschaftlichen Verstehens zeigt. Gleichwohl markiert die naturalistisch-antirealistische Behauptung den Punkt, der am meisten Kritik provozieren wird. So kann man etwa darauf verweisen, daß auch ein naturalistisches Weltbild die Annahme der Existenz sozialer Entitäten nicht ausschließt, wie dies kürzlich John Searle gezeigt hat (siehe ZPol 1/98: 460). Indes macht es Vielmetter seinen Kritikern nicht einfach, denn um ihm beizukommen, muß man sich zunächst auf das außerordentliche Reflexionsniveau seiner Argumentation begeben. Das Buch zeigt, in welch hohen theoretischen Lagen Grundlagenprobleme der Sozialwissenschaften heute diskutiert werden müssen und es macht deutlich, daß die Herausforderungen nicht mehr mit den Waffen vergangener Schlachten (Werturteilsstreit, Positivismusstreit etc.) bewältigt werden können. Vielmetters gelungene - wenngleich aufgrund häufiger Wiederholungen gelegentlich langatmige - Studie ist eine intelligente Herausforderung für alle, die Interesse an der Frage haben, was eigentlich sozialwissenschaftliche Erkenntnis ist.
Michael Henkel (MH)
Priv.-Doz. DR., Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena.
Rubrizierung: 5.2
Empfohlene Zitierweise: Michael Henkel, Rezension zu: Georg Vielmetter: Die Unbestimmtheit des Sozialen. Frankfurt a. M./New York: 1998, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/5355-die-unbestimmtheit-des-sozialen_7025, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 7025
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Priv.-Doz. DR., Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena.
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