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/ 03.06.2013
Helmut Wiesenthal (Hrsg.)

Einheit als Privileg. Vergleichende Perspektiven auf die Transformation Ostdeutschlands

Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 1996 (Eine Veröffentlichung der Max-Planck-Gesellschaft-Arbeitsgruppe Transformationsprozesse in den neuen Bundesländern); 409 S.; 88,- DM; ISBN 3-593-35615-5
Der Titel des Sammelbandes ist Programm: In den insgesamt acht Beiträgen wird aus unterschiedlicher Perspektive der Transformationsprozeß in Ostdeutschland als privilegierter Sonderfall im osteuropäischen Kontext analysiert. Während die ersten vier Aufsätze übergreifend angelegt sind, widmen sich die nachfolgenden einzelnen Politikfeldern wie dem Agrarbereich und der Berufsbildung. Daß bei aller strukturellen Gleichheit der Herrschaftssysteme bereits vor 1989 die Strategien und Ausformungen des Staatssozialismus variierten, ist der Befund von Bries komparatistischer Studie. Die SED-Strategie der Machtsicherung kennzeichnet er als bürokratisch im Unterschied zu klientelistischen Verfahren wie in Bulgarien und Rumänien oder der in Ungarn verfolgten pluralen Strategie. Durch seine zentralistisch-bürokratische Struktur und die Betonung der Systemkonkurrenz mit der Bundesrepublik wurde der sozialistische Wohlfahrts- und Überwachungsstaat zu seinem eigenen Totengräber: jede kleinste oppositionelle Regung mußte als Systembedrohung erscheinen, jeglicher ökonomische Rückstand zum Westen führte zu einer weiteren Delegitimierung. Gewissermaßen eine Fortschreibung von Bries Diktum von der DDR als der sattesten Baracke des sowjetischen Lagers unternehmen Rose und Haerpfer in ihrer Untersuchung zur Privilegierung Ostdeutschlands. Ebenso bemerkenswert wie der von den Autoren betriebene Aufwand, der allerdings Zweifel an der Indikatorenwahl, der Datenbasis und dem generellen Forschungsdesign nicht gänzlich auszuräumen vermag, ist die Ausblendung der Folgen der nachgewiesenen Privilegierung für das große soziale Experiment in den neuen Bundesländern. Hinsichtlich der ostdeutschen politischen Identitäten nach der deutschen Einheit konstatiert Ritter in ihrem Beitrag einen von den zentraleuropäischen verschiedenen Entwicklungspfad. Dominant sei eine Abgrenzungsidentität mit dem Topos der "Schicksalsgemeinschaft". Als ihr zentrales Problem stellt sich das geringe Vertrauen in die eigene Gestaltungskraft dar und die folglich ausbleibende politische Selbstbestimmung. Das sozialistische Erbe des autoritären Muster- und egalitären Sozialstaats DDR ist auch Gegenstand des einführenden Beitrags von Wiesenthal, der inhaltlich wie sprachlich den Höhepunkt des Bandes darstellt. Der Herausgeber macht vor allem überkommene politische und soziale Dispositionen der ostdeutschen Bevölkerung sowie die Fixierung auf die Referenzgruppe der Westdeutschen für überzogene Erwartungshaltungen, die dadurch bedingte Transformationsunzufriedenheit und schließlich für den Übergang der ostdeutschen Arbeitsgesellschaft "in eine eher passiv wirkende Erlebnis- und Empfängergesellschaft" (29) verantwortlich. So lassen sich auch Ambivalenzen und Paradoxien der Privilegierung erklären wie der Befund, daß es die ältere Generation mit ihrer teilweise ausgeprägten Affinität zum Staatssozialismus ist, die materiell am meisten von der konservativen Transformationsstrategie profitiert hat. Wiesenthals scharfsinnige Analyse überzeugt nicht nur durch die Stringenz der Argumentation, sondern sie vermittelt auch einige unbequeme Erkenntnisse. Gelegentlich allerdings schießt sie über ihr Ziel hinaus bzw. ist sie schlichtweg falsch, etwa wenn den Dichotomien Kapitalismus-Sozialismus oder Revolution-Konterrevolution apodiktisch eine für große Teile der DDR-Gesellschaft sinnstiftende Wirkung zugeschrieben wird. Inhalt: Helmut Wiesenthal: Die Transition Ostdeutschlands. Dimensionen und Paradoxien eines Sonderfalls (10-38); Michael Brie: Staatssozialistische Länder Europas im Vergleich. Alternative Herrschaftsstrategien und divergente Typen (39-104); Richard Rose / Christian Haerpfer: The Impact of a Ready-made State. Die privilegierte Position Ostdeutschlands in der postkommunistischen Transformation (105-140); Claudia Ritter: Politische Identitäten in den neuen Bundesländern. Distinktionsbedarfe und kulturelle Differenzen nach der Vereinigung (141-187); Ralf Clasen / Ilka John: Der Agrarsektor. Sonderfall der sektoralen Transformation? (188-263); Yvonne Erdmann: Ähnlich nur auf den ersten Blick. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Transformation des Gesundheitswesens in Ostdeutschland und Polen (264-297); Carsten Johnson: Berufliche Bildung zwischen Markt und Staat. Ein Vergleich der Ausbildungssysteme in der Tschechischen Republik und den Neuen Bundesländern (298-347); Jan Wielgohs: Privatisierung versus marktwirtschaftliche Reformpolitik. Optionen der Entstaatlichung des öffentlichen Mietwohnungssektors in Transformationsgesellschaften (348-407).
Michael Edinger (ME)
M. A., wiss. Mitarbeiter, Sonderforschungsbereich 580, Universität Jena (www.uni-jena/svw/powi/sys/edinger.html).
Rubrizierung: 2.3132.22.622.332.352.372.3432.263 Empfohlene Zitierweise: Michael Edinger, Rezension zu: Helmut Wiesenthal (Hrsg.): Einheit als Privileg. Frankfurt a. M./New York: 1996, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/2218-einheit-als-privileg_2701, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 2701 Rezension drucken
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