/ 17.06.2013
Loïc Wacquant
Elend hinter Gittern. Aus dem Französischen von Jörg Ohnacker
Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH 2000 (Raisons d'agir 2); 169 S.; brosch., 10,12 €; ISBN 3-87940-715-0Im Mittelpunkt dieses kleinen und unscheinbar wirkenden Büchleins steht eine sehr grundsätzliche und weittragende Problematik. Sie betrifft die Verfasstheit und Ausrichtung des Staates in einer sich im Zeichen der Globalisierung verändernden Welt und tangiert in elementarer Weise das Miteinander der Gesellschaftsmitglieder. Es geht um die von einer neokonservativen Ideologie getragene Entwicklung, in der die Aufgaben des Staates neu zu bestimmen versucht wird, und zwar mit dem Ziel, sie dort zu reduzieren, wo es um ökonomische und soziale Verpflichtungen geht, und sie dort zu steigern, wo es um das Auffangen der Folgen dieses Rückzugs geht: Es geht um die Ablösung des Wohlfahrtsstaats durch einen Gefängnisstaat. Armut und Arbeitslosigkeit wird nicht mehr als Ergebnis sozialer Benachteiligung angesehen, sondern als Problem persönlicher Inkompetenz und sogar moralischer Unvollkommenheit der betroffenen Individuen. Infolgedessen brauchen auch nicht mehr gesellschaftsbedingte Ursachen erforscht und beseitigt zu werden, sondern es bedarf der Gängelung des Einzelnen, was wiederum einen starken Staat benötigt, der, "als unbeugsamer Morallehrer, die Armen durch Arbeitsdisziplin aus ihrer Untätigkeit reißen und ihren destruktiven und liederlichen 'Lebensstil' autoritär zu reformieren vermag" (37). Nach einem der Propagandisten soll der Staat "das gewünschte Verhalten [nämlich zu arbeiten] nicht attraktiver gestalten" (etwa durch Anhebung des Mindestlohns oder die Verbesserung der sozialen Sicherung), sondern "diejenigen bestrafen, die sich diesem Verhalten verweigern". "Die Akzeptanz eines Elendslohns soll zur Bürgerpflicht erhoben werden." (35) Sozialrecht mutiert zum Disziplinarrecht. Den Konsequenzen der sozialen Depravation - z. B. Obdachlose - wird im Wege der Aufrechterhaltung der Ordnung mit polizeilichen und strafrechtlichen Mitteln begegnet. Armut selbst wird so kriminalisiert.
Der Autor, Soziologe an der Universität von Kalifornien in Berkeley, schildert kritisch und detailliert das Entstehen und die Verbreitung dieser Ideologie sowie deren Umsetzung. Ihren Ursprung und ihre wichtigsten Propagandisten fand diese Entwicklung in den USA. Von konservativen Think Tanks ersonnen und genau von jenen staatlichen Organen gefördert, "die offiziell mit der Förderung jener 'strafrechtlichen Härte' befaßt sind, die seit zwei Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten ihr Unwesen treibt und, trotz stagnierender bzw. sinkender Kriminalitätsraten, seither zu einer Vervierfachung der Haftpopulationen geführt hat" (10) sowie anderen halböffentlichen und privaten Institutionen, wurde sie auch dem Ausland offeriert. In Europa fand zunächst Großbritannien großen Gefallen, wobei auch die "selbsternannte Avantgarde der europäischen 'Neuen Linken'" (New Labour) sich im Konsens mit "der reaktionärsten amerikanischen Rechten" (33) zeigte. Als sehr werbewirksam für den Export dieser Linie erwies sich das angeblich erfolgreiche New Yorker Sicherheitskonzept "null tolerance". Dieses basiert auf der von konservativen Kriminologen entwickelten, aber empirisch nie überprüften Broken-Window-Theorie, wonach Bagatelldelikte schwere Verbrechen provozieren, und die dementsprechend als Reaktion "null tolerance" schon gegenüber den geringsten Ordnungsverstößen nahe legt. Die Null-Tolerance-Doktrin stieg schnell zum Vorzeigemodell und zum scheinbaren "Allheilmittel gegen sämtliche sozialen Mißstände" wie Kriminalität oder "'Sozialstaatschmarotzertum'" (24) auf. Diese Politik, die zunehmende Kriminalisierung und der Ausbau der polizeilichen und strafrechtlichen Apparate, geht vor allem zulasten jener Bevölkerungsteile, die in besonderem Maße von Armut und sozialer Unsicherheit betroffen sind. Dies arbeitet Wacquant anschaulich primär am Beispiel der USA heraus. Zu den Konsequenzen dieser Politik zählt auch, dass die Inhaftierungsquoten immens ansteigen und die Gefängnisse neue Funktionen erhalten: Sie senken künstlich die Arbeitslosenquote, werden zum Arbeitsmarkt für unqualifizierte Arbeitskräfte, halten die Rassenordnung aufrecht und sie übernehmen Aufgaben im Rahmen der Sozialhilfe. Zum Abschluss seiner kritischen Beschreibung der Auswirkungen dieser Politik resümiert der Autor, dass Europa sich noch entscheiden müsse, ob es den von den USA vorgezeigten Weg der Kriminalisierung von Armut und der strafrechtlichen Absicherung sozialer Unsicherheit mitgehen möchte oder nicht. "Die Entscheidung wird zeigen, welche Art von Zivilisation den Bürgern angeboten werden soll." (149)
Detlef Lemke (LE)
Dipl.-Politologe.
Rubrizierung: 2.64 | 2.263 | 2.262 | 2.21
Empfohlene Zitierweise: Detlef Lemke, Rezension zu: Loïc Wacquant: Elend hinter Gittern. Konstanz: 2000, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/15216-elend-hinter-gittern_17292, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 17292
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