/ 03.06.2013
Birgit Pauls
Giuseppe Verdi und das Risorgimento. Ein politischer Mythos im Prozeß der Nationenbildung
Berlin: Akademie Verlag 1996 (Politische Ideen 4); 353 S.; 84,- DM; ISBN 3-05-003013-5Diss. Frankfurt a. M.; Erstgutachter: H. Münkler. - Es ist für Verdi-Liebhaber gut, daß am Ende dieser Dissertation immerhin noch die Musik übrig bleibt und daß der Maskenball auch dann genial ist, wenn er keinen meßbaren Beitrag zur italienischen Einigung geleistet hat. Ansonsten aber räumt Pauls mit den liebgewordenen Ansichten über die vermeintlich politische Musik Verdis so gründlich auf, daß man am Ende nur noch vor Scherben steht. Das bekannte Akrostichon V.E.R.D.I. ist eine Erfindung nach der Einigung, von einer Volkshaftigkeit seiner Musik läßt sich auch nicht so einfach sprechen, politische Nachwirkungen seiner Opern lassen sich zeitgenössisch nicht nachweisen. Von durchschlagender Überzeugungskraft ist die Analyse der Schulbücher ab 1866 (301 ff.), anhand derer die Autorin nachweist, daß Verdi unter den Helden des Risorgimento erst mit Beginn von Mussolinis Herrschaft eine Rolle gespielt hat. Vorher fehlt sein Name unter den Einigern Italiens. Alles dies ist schmerzlich für Anhänger Verdis, macht aber noch nicht deutlich, warum diese Arbeit in einer Reihe "Politische Ideen" erschienen ist.
Pauls geht es nicht ausschließlich um Verdi. Der Komponist ist das Beispiel für eine viel weiterreichende Fragestellung, in der der Mythos der italienischen Einigung virtuos analysiert und damit zugleich dekonstruiert wird. Mythos ist nicht abwertend gemeint: "Der Begriff 'Mythos' dient hier als analytische Kategorie. Er ist als deskriptives Arbeitsinstrument zu verstehen, mit dessen Hilfe nachvollziehbar wird, wie die Bildung einer Nation erzählt und plausibilisiert werden kann, und wie ein Gründungsmythos im Lauf der Erzählung und Rezeption seine stützenden Mythologeme erhält." (12) Dabei liegt "[d]ie erstaunliche Kraft des Mythos [...] nicht nur in seiner normativen Ordnungsfunktion, sondern darüber hinaus in der gleichzeitigen Fähigkeit, die Unordnung in eine vermeintlich vorgegebene Ordnung münden zu lassen" (13). Im ersten Teil (19 ff.) analysiert sie, zum Teil im Rückgriff auf Lévi-Strauss und Blumenberg, den Begriff des Mythos, um dieses Konzept dann im zweiten Teil (43 ff.) auf das italienische Risorgimento anzuwenden. Im dritten Teil (155 ff.) wird schonungslos der Mythos der Oper und Verdis für das Risorgimento dekonstruiert. Pauls Arbeit, aus der eine minutiöse Kenntnis der Opernwelt des 19. Jahrhunderts spricht, bietet einen faszinierenden Einblick in die Prozesse, die nationale Mythen entstehen ließen, und, wichtiger noch, die sie am Leben hielten. Ideengeschichtler werden diese Arbeit auch dann mit Gewinn lesen, wenn sie keine Opernliebhaber sind. Verdi-Anhänger werden sie nicht ohne Bedauern aus der Hand legen, auch wenn sie Ideengeschichtler sind.
Michael Dreyer (MD)
Prof. Dr., Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena.
Rubrizierung: 5.33
Empfohlene Zitierweise: Michael Dreyer, Rezension zu: Birgit Pauls: Giuseppe Verdi und das Risorgimento. Berlin: 1996, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/2008-giuseppe-verdi-und-das-risorgimento_2412, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 2412
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Prof. Dr., Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena.
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