/ 31.03.2016
Paul Nolte
Hans-Ulrich Wehler. Historiker und Zeitgenosse
München: C. H. Beck 2015; 208 S.; brosch., 19,95 €; ISBN 978-3-406-68294-0Kaum ein Jahr nach seinem Tod liegt mit diesem Buch bereits eine Würdigung von Hans‑Ulrich Wehler vor, der als einer der einflussreichsten Historiker Deutschlands im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert gelten kann. Paul Nolte, Schüler Wehlers und Professor für Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin, verbindet dabei biografische und werkgeschichtliche Aspekte miteinander. Besonderes Augenmerk gilt dabei Wehlers Arbeiten zum Kaiserreich und – insbesondere – zur deutschen Gesellschaftsgeschichte, mit der der Bielefelder Historiker den Versuch unternahm, die Entwicklung Deutschlands seit dem frühen 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein nachzuzeichnen und zu deuten. Wehler ließ dabei die traditionelle Konzentration auf die politische und diplomatische Geschichte hinter sich und arbeitete stattdessen die Bedingtheit der Politik aus den ökonomischen und sozialstrukturellen Grundlagen heraus. Damit gab es immer auch Verbindungen zu den Wirtschafts‑ und Sozialwissenschaften, deren Theorieangebote und empirische Analysen Wehler nicht nur zur Kenntnis nahm, sondern vielfach zum Ausgangspunkt seiner historischen Untersuchungen machte. Auch deshalb ist Noltes Buch allen historisch arbeitenden oder interessierten Politikwissenschaftler_innen zu empfehlen. Adressaten von Wehlers Studien waren indes nicht nur die Fachkollegien, sondern mit seinen – nicht selten polemischen und zugespitzten – Essays fand er auch das Gehör einer kritischen Öffentlichkeit. Insofern, das soll der Untertitel des Buches anzeigen, war er nicht nur „Historiker“, sondern eben auch „Zeitgenosse“. Das betrifft vor allem seine Rolle im Historikerstreit, in dem er mit beißendem Spott und scharfer Zunge seine Kollegen ohne größere Zwischentöne den Lagern „Gut“ und „Böse“ zuteilte. Aber auch in jüngerer Zeit intervenierte er mit vernehmbarer Stimme, etwa zum EU‑Beitritt der Türkei oder zur sozialen Ungleichheit. Nicht zuletzt kann man in dem Band etwas über die Karrierepfade und Reputationskriterien in der Geschichtswissenschaft lernen, die in vielerlei Hinsicht einer klassischen Gelehrtendisziplin und ihren Kooptationsmechanismen immer noch näher steht als den sozialwissenschaftlichen Fächern und ihren (vermeintlich) objektiven Leistungsprinzipien. Dass Wehler die Sympathie seines Schülers gilt, ist kein grundsätzlicher Schaden, zumal das Nolte nicht daran hindert, auch kritische Fragen zu stellen. Manches Urteil dürfte freilich vorläufig sein und mit größerem zeitlichen und individuellen Abstand anders ausfallen.
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Rubrizierung: 1.3 Empfohlene Zitierweise: Wilhelm Knelangen, Rezension zu: Paul Nolte: Hans-Ulrich Wehler. München: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/39571-hans-ulrich-wehler_47916, veröffentlicht am 31.03.2016. Buch-Nr.: 47916 Inhaltsverzeichnis Rezension druckenCC-BY-NC-SA