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/ 04.06.2013
Hannes Heer (Hrsg.)

Im Herzen der Finsternis. Victor Klemperer als Chronist der NS-Zeit

Berlin: Aufbau-Verlag 1997; 220 S.; 2. Aufl.; 29,80 DM; ISBN 3-351-02456-8
Das Anliegen des Bandes ist es, Einzigartigkeit und Wert der Tagebücher Victor Klemperers (erschienen im Aufbau-Verlag, Berlin 1995) aus den Jahren 1933 - 1945 zu ermessen, die seit ihrer Veröffentlichung große Aufmerksamkeit gefunden haben. Die Reihenfolge der Beiträge ist chronologisch angelegt. Zunächst werden die Hintergründe zu Klemperers Leben vor 1933 sowie seiner schwierigen Identitätsfindung zwischen Deutschtum und Judentum beleuchtet (Gerstenberger, Rieker). Nerlich stellt Klemperer in seiner Rolle als romanistischer Aufklärungsforscher vor. Beeindruckend ist Wildts Ansatz, Klemperers individuelle Erfahrungen mit Informationen über die Judenverfolgung im Nationalsozialismus zu verknüpfen. Die von ihm geschilderte allgemeine Entwicklung der Entrechtung wird immer wieder durch Klemperers persönliche Erlebnisse durchbrochen und exemplifiziert. Über den lokalen Kontext der Geschichte der Juden in Dresden, wo Klemperer während des Nationalsozialismus lebte, informieren die Beiträge von Liebsch und Golgenbogen. Ersterer stellt jedoch keine direkten Bezüge zu Klemperer her. Die Ehrlichkeit in Klemperers nicht zur Publikation bestimmten Notizen wird durch zur Niedens Vergleich mit der zeitgenössischen Tagebuchliteratur unterstrichen. Außerdem betont die Autorin die Bedeutung der Aufzeichnungen für die Entstehung des "Lingua Tertii Imperii - Notizbuch eines Philologen", Klemperers bekanntem Buch über die Sprache im Nationalsozialismus. Heer greift in seiner Artikelüberschrift "Vox populi" ein Zitat aus den Tagebüchern auf. In den Gesprächen des Alltags erlauschte Klemperer die allgemeine Stimmung der "Volksgemeinschaft". Die privaten Aufzeichnungen Klemperers stellen sich dabei als eine Ergänzung zu den "Meldungen aus dem Reich" des Sicherheitsdienstes der SS heraus. Über den Zeitraum des Nationalsozialismus hinaus gehen die Beiträge von Greiner und Kraushaar. Greiner schildert, wie Klemperer das Kriegsende und die Befreiung 1945 und danach den Neuanfang in der SBZ erlebt, während Kraushaar die Karriere eines Mannes in KGB und BND weiterverfolgt, der in Klemperers Tagebuch als besonders gewaltbereiter, brutaler Gestapomann bezeugt wird. Der Band schließt mit einem Beitrag Reemtsmas, in dem die Tagebücher im Kontext anderer literarischer oder filmischer Ansätze der Vergangenheitsbewältigung betrachtet werden. Sie stehen demnach zeitlich und thematisch zwischen Schindlers Liste und Goldhagens "Hitlers willige Vollstrecker" und dokumentieren eindrucksvoll den tagtäglichen "sozialen Mord" an den deutschen Juden, ohne den Leser mit der letzten Stufe, der physischen Vernichtung des Helden zu belasten (176) - ein Grund für ihre Popularität? Einige Beiträge arbeiten großzügig mit Zitaten. Diese Vorgehensweise bietet sich aufgrund der hohen Selbstreflexivität der Aufzeichnungen Klemperers tatsächlich an. Da aber einige prominente Tagebuchstellen mehreren Verfassern ins Auge fielen, kommt es in einigen Punkten zu Wiederholungen bzw. Überschneidungen. Gerade hier liegt aber auch der Reiz des Bandes: Die Zusammenstellung von (auch gleichen) Tagebuchstellen unter einer jeweils anderen Fragestellung, ergänzt durch weitere Quellen, läßt den Reichtum der Aufzeichnungen Klemperers sehr deutlich werden. Die Herausgeber haben ihr Ziel erreicht. Indem die Autoren für ihre Recherchen u. a. auf Klemperers - in der Zeit der Naziherrschaft entstandenes - "Curriculum Vitae" (1886 - 1918) und seine Tagebücher von 1918 - 1932 zurückgreifen, stellen sie die Tagebücher außerdem in den Kontext des autobiographischen Gesamtwerks Klemperers. Im Endergebnis ist der Sammelband eine durch seine Vielfalt bereichernde ergänzende Lektüre zu den Tagebüchern, die aber auch ohne Kenntnis dieser gewinnbringend zu lesen ist. Inhalt: Heide Gerstenberger: "Meine Prinzipien über das Deutschtum und die verschiedenen Nationalitäten sind ins Wackeln gekommen wie die Zähne eines alten Mannes". Victor Klemperer in seinem Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen (10-20); Yvonne Rieker: "Sich alles assimilieren können und doch seine Eigenart bewahren". Victor Klemperers Identitätskonstruktion und die deutsch-jüdische Geschichte (21-34); Michael Nerlich: Victor Klemperer Romanist oder Warum soll nicht einmal ein Wunder geschehen? (35-48); Michael Wildt: Angst, Hoffen, Verzweifeln. Victor Klemperer und die Verfolgung der deutschen Juden 1933 bis 1941 (49-72); Heike Liebsch: "Ein Tier ist nicht rechtloser und gehetzter". Die Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Dresdens 1933 - 1937 (73-91); Nora Goldenbogen: "Man wird keinen von ihnen wiedersehen". Die Vernichtung der Dresdener Juden 1938 - 1945 (92-109); Susanne zur Nieden: Aus dem vergessenen Alltag der Tyrannei. Die Aufzeichnungen Victor Klemperers im Vergleich zur zeitgenössischen Tagebuchliteratur (110-121); Hannes Heer: Vox populi. Zur Mentalität der Volksgemeinschaft (122-143); Bernd Greiner: "Zwiespältiger denn je". Victor Klemperers Tagebücher im Jahr 1945 (144-151); Wolfgang Kraushaar: Karriere eines Boxers (XXX). Johannes Clemens: Vom Dresdener Gestapo-Schläger zum Doppelagenten des KGB im BND (152-169); Jan Philipp Reemtsma: "Buchenwald wird von anderen geschildert werden: ich will mich an meine Erlebnisse halten". Stenogramme aus der Vorhölle (170-193).
Kristine Fischer / SL (Kristine Fischer / SL)
Rubrizierung: 2.3121.32.35 Empfohlene Zitierweise: Kristine Fischer / SL, Rezension zu: Hannes Heer (Hrsg.): Im Herzen der Finsternis. Berlin: 1997, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/4798-im-herzen-der-finsternis_4175, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 4175 Rezension drucken
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