/ 10.07.2013
Sandro Gaycken (Hrsg.)
Jenseits von 1984. Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung
Bielefeld: transcript Verlag 2013 (Kultur- und Medientheorie); 166 S.; kart., 19,80 €; ISBN 978-3-8376-2003-0In leider viel zu seltenen Momenten koinzidieren Buchpublikation und aktuelle – politische – Relevanz punktgenau. Für den Sammelband, der in bewusster Abgrenzung zu George Orwells in „1984“ skizziertem Präventionsstaat zu einer Versachlichung der Debatte über die elektronische Überwachung von Kommunikationsdaten beitragen will, könnte sich diese Koinzidenz allerdings als Verhängnis erweisen. Sandro Gayckens Intention spiegelt sich in folgendem Satz: „Die drei wichtigsten Transporteure von Wissen und Meinungen in diesem Bereich [...] verzerren den Diskurs statt ihn aufzuklären.“ (8) Was sich in normalen Zeiten als hinreichend unverfänglicher Aufruf zur Mäßigung lesen ließe, die noch dazu – auch darin ist Gaycken ja zuzustimmen – für einen gelingenden demokratischen Diskurs unabdingbar ist, klingt seit den Enthüllungen Edward Snowdens im Juni 2013 bloß noch naiv. Auch wenn dieses Urteil hart klingen mag, so scheint es doch angemessen angesichts einer Überwachungspraxis westlicher Geheimdienste, die wohl das Maß des Vorstellbaren – und auch des im Band Berichteten – weit übersteigt. Dabei stellen die Beiträge, etwa wenn es bei Patrick Voss‑de Haan um die Ausbalancierung von Sicherheitsbedürfnis und Informationsbeschaffung geht oder Nils Zurawski die aktuellen Grenzen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit technischer Überwachung skizziert, wichtige Bausteine für einen wohl informierten, sachlichen Diskurs dar. Einzig die Umfeldbedingungen dieses Diskurses haben sich aktuell so dramatisch verschoben, dass sich die Frage stellt, ob nicht eher mehr statt weniger Aufregung und Empörung angebracht erscheint. Zumal es um ein Themenfeld geht, das mit Blick auf die informationelle Selbstbestimmung wirklich jeden Bürger interessieren sollte. Die politischen Verwicklungen, die sich aus der wechselseitigen systematischen Spionage zwischen befreundeten Staaten ergeben, sind da noch nicht einmal berücksichtigt. Das alles sind inhaltliche Fragen, auf die im Band durchaus spannende Antworten zu finden sind. Jedoch ist „Unfreiheit durch zu viel Sicherheit“ (19), wie Gaycken schreibt, angesichts der gegenwärtigen Geschehnisse keine Dystopie à la „1984“ mehr oder eine Frage des „richtigen Maßes“ (18). Unfreiheit im Zeichen von Sicherheit ist schlicht reale, politisch gewollte Praxis – und auf die haben die Autor_innen keine Antwort – sie können sie auch nicht haben.
Matthias Lemke (LEM)
Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.263 | 2.343 | 3.5
Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Sandro Gaycken (Hrsg.): Jenseits von 1984. Bielefeld: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/35928-jenseits-von-1984_42603, veröffentlicht am 14.07.2013.
Buch-Nr.: 42603
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Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
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