Es ist, zumal unter Ideengeschichtlern, nicht unbedingt ein Geheimnis, daß Karl Marx mehr zitiert als gelesen wurde und daß eine Umkehrung dieses Verhältnisses auch heute nützlich sein könnte. Die Berliner Publizistin bietet auf wenigen Seiten eine große Fülle von kurzen Textausschnitten, die den Analytiker und Moralisten, aber auch den Stilisten Marx neu zu Wort kommen lassen sollen. In fünf großen Abschnitten hat sie Texte zur Geschichtlichkeit der bürgerlichen Welt gesammelt, zu Gesellschaft und Gemeinwesen, zur Lage des Proletariats im Kapitalismus, zur Analyse des bürgerlichen Kapitalismus und zur Lage der nichtkapitalistischen Welt unter den Bedingungen einer weltweiten Herrschaft des Kapitalismus. Die kommentierte Bibliographie ist hilfreich - ob es allerdings notwendig war, Werner Maihofer die Charakterisierung "eines später für Berufsverbote zuständigen sozialliberalen Innenministers" (170) zu geben, bleibe dahingestellt. Gemischte Gefühle hinterläßt auch die Einleitung, in der Sichtermann Marx von jeglichen Folgen losspricht. Die Diktatur des Proletariats sei ihm "eine Spielart demokratischer Mehrheitsregierung" (19) gewesen, während "das imperialistische Terrorregime, für das man ihn verantwortlich machen will, seinen Namen eher zufällig auf seine Propaganda-Broschüren geklebt" habe (12). Sichtermann sieht vieles auch differenzierter, aber die generelle Stoßrichtung ist doch zu einfach. Ein letzter Kritikpunkt: Der professionelle Leser hätte bei den Quellenangaben aus der MEW neben dem Band auch die Seitenzahlen begrüßt. Ansonsten aber ist die Auswahl empfehlenswert, vor allem dann, wenn man neben dem Theoretiker Marx auch den Autoren Marx und seine beeindruckende schriftstellerische Kraft neu für sich entdecken will.