/ 04.06.2013
Timur Kuran
Leben in Lüge. Präferenzverfälschungen und ihre gesellschaftlichen Folgen. Übersetzt von Ekkehard Schöller
Tübingen: Mohr Siebeck 1997 (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 100); XVIII, 462 S.; brosch., 78,- DM; ISBN 3-16-146762-0Warum überdauern gesellschaftliche und politische Strukturen trotz verbreiteter individueller Unzufriedenheit? Warum hielten sich die sozialistischen Regime Osteuropas und vermittelten den Eindruck großer Stabilität? Und warum brachen sie so plötzlich und unerwartet zusammen? Warum fressen Revolutionen ihre Kinder? Warum kommen und gehen Moden so rasch? Und warum kann man trotz staatlich garantierter Freiheit der Kommunikation heute nicht mehr aussprechen, was gestern noch in aller Munde war? Der Begriff, auf dem Kurans Modell für die Beantwortung solcher und zahlreicher weiterer Fragen beruht, ist derjenige der Präferenzverfälschung. Er "meint [...] die Manipulation der Wahrnehmungen, die andere von unseren Motiven, Neigungen oder Meinungen haben" (4), bezeichnet die falsche Darstellung unserer tatsächlichen Überzeugungen und Bedürfnisse und entspricht dem, was osteuropäische Dissidenten in Zeiten der sozialistischen Diktatur als das "Leben in Lüge" bezeichneten. Nach der Explikation des Begriffs entfaltet der türkisch-amerikanische Sozialwissenschaftler ein umfassendes Erklärungsmodell, das nicht nur der Beantwortung der oben skizzierten Fragen (auch anhand konkreter Beispiele) dient, sondern darüber hinaus beispielsweise eine Theorie der Revolution ebenso umfaßt wie wissenschaftstheoretische Überlegungen zu der Problematik, warum überraschende soziale Umbruchsprozesse einerseits nicht prognostiziert werden können, andererseits aber im Nachhinein leicht zu erklären sind. Man ist im ersten Moment versucht, Kurans Überlegungen als einen jener zweifelhaften Versuche einer "Theorie für alles" zu qualifizieren, wie wir sie auch von anderen Autoren kennen, die sich dem Paradigma der ökonomischen Theorie der Politik und des Sozialen verschrieben haben, dem auch Kuran folgt. Und gewiß lassen sich Mängel in der Argumentation finden. Kurans Studie unterscheidet sich jedoch von anderen Arbeiten ähnlicher Art insofern, als sie das reduktionistische Verständnis vom Menschen als homo oeconomicus erheblich modifiziert und um soziologische und psychologische Prämissen erweitert, was den Ansatz des Autors prima facie vor dem Vorwurf unrealistischer Modellkonstruktion schützt. Vor diesem Hintergrund ist es eine pure Freude, der Argumentation zu folgen und die Einsichten des Autors sowie die Plausibilität der von ihm gewählten Beispiele auf sich wirken zu lassen. Nicht das Ei des Kolumbus, aber doch ein großartiges Buch, das durch den Mut zu umfassender Theoriebildung heraussticht und das zudem schön zu lesen ist, zumal Kuran dem Leser die Subtilitäten mathematischer Argumentationen weitgehend erspart.
Aus dem Inhalt: II. Verhinderung sozialen Wandels: 6. Kollektiver Konservativismus; 7. Die Zählebigkeit des Kommunismus; 8. Die verhängnisvolle Kontinuität des Kastensystems; 9. Die unerwünschte Ausbreitung der "affirmative action". IV. Die Entstehung von Überraschungen: 15. Unvorhergesehene politische Revolutionen; 16. Der Zusammenbruch des Kommunismus und andere unvorhergesehene politische Revolutionen; 17. Die verborgenen Komplexitäten der gesellschaftlichen Entwicklung; 18. Von der Sklaverei zur "affirmative action"; 19. Präferenzverfälschungen und sozialwissenschaftliche Theorien.
Michael Henkel (MH)
Priv.-Doz. DR., Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena.
Rubrizierung: 5.41 | 5.43
Empfohlene Zitierweise: Michael Henkel, Rezension zu: Timur Kuran: Leben in Lüge. Tübingen: 1997, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/4259-leben-in-luege_6010, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 6010
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Priv.-Doz. DR., Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena.
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