/ 22.06.2013
Gérard Bökenkamp (Hrsg.)
Markt, Freiheit und Reform. Ein Milton-Friedman-Brevier
Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2012 (Meisterdenker der Freiheitsphilosophie); 96 S.; brosch., 21,- €; ISBN 978-3-03823-803-4In Zeiten von Finanz- und Wirtschaftskrise, in der nicht nur der Ruf nach mehr Ordnungspolitik, sondern nach staatsinterventionistischer Tätigkeit weithin vernehmbar ist, dürfte von vielen die Veröffentlichung eines Friedman-Breviers als wirtschaftsliberale Kampfansage verstanden werden. Wie kaum ein anderer steht er für das Schreckgespenst, das in der öffentlichen Debatte etwas missverständlich Neoliberalismus genannt wird. Bei genauerem Hinsehen erweist sich seine Position als tradiertes Vertrauen in die Allmacht des Marktes und in die Gerechtigkeit der Leistungseliten jenseits staatlicher Sozial- und Konjunkturpolitik. Wer einen ersten Einstieg in Friedmans Denken wagen möchte, dem sei das Buch empfohlen; es enthält Auszüge aus nahezu allen wichtigen Arbeiten. Außer den frühen, zum Teil in ORDO erschienenen Aufsätzen und der „Price Theory“ von 1976 sind zahlreiche streitbare Aussagen des Monetaristen zusammengetragen. Kritiker und Befürworter werden noch einmal durch die Landschaft des freien Marktes geführt, wo der Staat zunächst als Bewahrer der unternehmerischen Freiheit auftritt – denn Unternehmer sind wir alle –, um sich dann als sittenstrenger Tugendwächter der Nation zu präsentieren. Dass Friedman gleichzeitig etwa für die Legalisierung aller Drogen votiert, dürfte noch heute den (kontinentaleuropäischen) Leser irritieren. Friedman mag zunächst schon fast libertär argumentieren, scheut sich aber nicht, im gleichen Atemzug nicht nur unverhohlen Propaganda für die Conservatives zu machen, sondern ist aus freiheitlichen Gründen durchaus bereit, seine Reformvorschläge in antidemokratisch-elitistisches Fahrwasser fließen zu lassen – was einem unweigerlich das wenig ambivalente Verhältnis der Chicago Boys zur Militärdiktatur Pinochets ins Gedächtnis ruft. Vielleicht hätte der selbst dem libertären Denken nahestehende Herausgeber gut daran getan, solche Probleme zur Sprache zu bringen, anstatt nonchalant zu bemerken, dass Friedman nicht nur die Wirtschaftspolitik Pinochets begrüßte, sondern sich auch „intensiver“ (90) mit Kommunisten unterhielt. Dass der durch die chilenische Geheimpolizei 1976 in Washington ermordete Sozialist Orlando Letelier genau auf dieses Missverhältnis hinwies, wie der Nobelpreisträger mit freiheitlichen Argumenten einen autoritären Staat rechtfertigen konnte, hätte ebenso erwähnt werden können wie die interne Kritik von Hayek und den deutschen Neoliberalen am als defizitär empfundenen Staatsverständnis Friedmans. Aber dies würde den Sinn des Buches verkennen, das weniger durch die Diskussion der Brüche und Widersprüche im Liberalismus, sondern durch sein selbstbewusstes politisches Sendungsbewusstsein hervorsticht.
Frank Schale (FS)
Dr., wiss. Mitarbeiter, Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte, Technische Universität Chemnitz.
Rubrizierung: 5.46 | 5.45
Empfohlene Zitierweise: Frank Schale, Rezension zu: Gérard Bökenkamp (Hrsg.): Markt, Freiheit und Reform. Zürich: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/35577-markt-freiheit-und-reform_42925, veröffentlicht am 22.11.2012.
Buch-Nr.: 42925
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Dr., wiss. Mitarbeiter, Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte, Technische Universität Chemnitz.
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