/ 17.06.2013
Ernst-Otto Czempiel
Neue Sicherheit in Europa. Eine Kritik an Neorealismus und Realpolitik
Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2002 (Studien der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung 37); 184 S.; kart, 39,90 €; ISBN 3-593-37028-XDas Buch bündelt die Ergebnisse eines Forschungsprojektes, das sich mit dem Sicherheitsdilemma in Europa nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes auseinandersetzt. Dabei wird insbesondere der Zeitraum von 1992 bis 1996 theoretisch und empirisch untersucht. Czempiel stellt der Analyse zwei Leitfragen voran: Lässt sich nach 1989 im euro-atlantischen Raum noch ein Zwang zur Verteidigungsvorsorge feststellen? Ist er bei außenpolitischen Entscheidungsträgern als handlungsleitend erkennbar? Damit stellt der Autor eine Verknüpfung zwischen dem politikwissenschaftlichen Realismus und der politischen Praxis der Realpolitik her. Beidem widmet er im Folgenden seine Kritik: Zunächst setzt er sich mit verschiedenen Ansätzen des Realismus und des Neorealismus auseinander. Anschließend skizziert Czempiel die sozioökonomischen und die politischen Veränderungen im euro-atlantischen Segment der internationalen Politik. Für diesen Raum erkennt er Demokratisierung, außenwirtschaftliche Interdependenz und Denationalisierung als strukturändernd an. Daher verwirft er die "vom Neorealismus postulierte Annahme (die die Realpolitik nach wie vor teilt), daß sich das Verhalten der Nachbarstaaten nur aus dem Aufbau und der Ausrichtung ihrer Streitkräftepotentiale ergibt, über die jedoch infolge der von der Systemanarchie gestifteten Ungewißheit kein verlässlicher Aufschluß zu erlangen ist" (70 f.). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird abschließend das Sicherheitsdilemma als politisches Handlungsmotiv in außenpolitischen Stellungnahmen der USA, der Bundesrepublik Deutschland, der Russischen Föderation und Tschechiens exemplarisch untersucht. Mit der Entscheidung der NATO zur Osterweiterung sei dabei das Sicherheitsdilemma in die euro-atlantische Region zurückgekehrt, "aber nicht als Ursache, sondern als Folge der westlichen Politik" (174). Czempiel bedauert, dass der inklusive Rahmen der OSZE für die Konsolidierung der europäischen Neuordnung nicht genutzt und stattdessen die Verteidigungsallianz der NATO als sicherheitsstiftender Ordnungsfaktor vorgezogen worden ist.
Aus dem Inhalt: 2. Das Sicherheitsdilemma in der Theorie des Neorealismus: 2.1 Die Defizite des Klassischen Neorealismus; 2.2 Das Sicherheitsdilemma als zentrales Theorem; 2.3 Die Erweiterungen des Klassischen Neorealismus; 2.4 Die Öffnung des Staatsbegriffs; 2.5 Die Wirkung internationaler Organisationen. 3. Der Abbau der Anarchie im Sachbereich der Sicherheit und der Wandel des euro-atlantischen Systems: 3.1 Das Regime der Rüstungskontrolle verbreitet Gewissheit; 3.2 Kooperation erzeugt Vertrauen; 3.3 Strukturwandel der Staaten durch Transformation und Demokratisierung; 3.4 Bilanz: Das euro-atlantische System ist nicht mehr anarchisch. 4. Das Sicherheitsdilemma in den Bedrohungsanalysen: 4.1 Die USA; 4.2 Die Bundesrepublik Deutschland; 4.3 Die Russische Föderation; 4.4 Die Tschechische Republik. 5. Ergebnis: Das Sicherheitsdilemma - ein Produkt der Politik.
Stefan Gänzle (GÄ)
Politikwissenschaftler.
Rubrizierung: 4.1 | 4.41 | 4.21 | 4.22 | 2.62 | 2.64
Empfohlene Zitierweise: Stefan Gänzle, Rezension zu: Ernst-Otto Czempiel: Neue Sicherheit in Europa. Frankfurt a. M./New York: 2002, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/16967-neue-sicherheit-in-europa_19488, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 19488
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Politikwissenschaftler.
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