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/ 05.06.2013
Helmut Dubiel

Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages

München/Wien: Carl Hanser Verlag 1999; 304 S.; geb., 39,80 DM; ISBN 3-446-19650-1
An den Debatten über die Errichtung eines Holocaust-Mahnmals ist erneut deutlich geworden, wie konflikthaft und schmerzlich sich in vielen Fällen Prozesse kollektiver Erinnerung an die NS-Geschichte vollziehen. Daß in diesen Auseinandersetzungen etwas aufscheint, was für die Herausbildung der demokratischen Legitimität der Bundesrepublik geradezu konstitutiv ist, zeigt Dubiel in seiner glänzenden Analyse der einschlägigen Debatten des Deutschen Bundestages von den frühen 50er Jahren bis in die Gegenwart (nämlich bis zur Debatte über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht am 13.03.97). Dem politischen System der Bundesrepublik ist - so Dubiels grundlegende These - "eine demokratische Kultur nur in dem Maße zugewachsen [...], wie den Erinnerungen jener Vergangenheit ein Raum eröffnet wurde" (10). Dieser Prozeß kam in Westdeutschland - wie man weiß - nur mühsam in Gang: systematische Verleugnung der Verantwortung, unzureichender Elitenaustausch und Geschichtsstilisierung im Zuge eines ideologisch gewendeten Anti-Totalitarismus prägten noch in den 60er Jahren das öffentliche Verhalten gegenüber der NS-Vergangenheit. Aber im Unterschied zu den beiden anderen Nachfolgestaaten des "III. Reiches" (Österreich und die DDR), die ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus effektiv zu externalisieren wußten, konnte in der Bundesrepublik - aufgrund der von dieser beanspruchten Rechtsnachfolge - einer internen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Herrschaft nicht einfach ausgewichen werden (275 ff.). Dubiels Rekonstruktion der parlamentarischen Vergegenwärtigung der NS-Vergangenheit als "Reflexionsgeschichte der Bundesrepublik" (13) überzeugt durch ihre prägnante Interpretation, die ausdrücklich aus der Perspektive eines Teilnehmers am Prozeß kollektiver Selbstverständigung erfolgt - "angesichts der in Rede stehenden Ereignisse [kann es] keinen legitimen Anspruch auf eine neutrale Beobachtungsperspektive geben" (12). Schon aus thematischen und konzeptionellen Gründen dürfte die Studie zur "Pflichtlektüre" im Bereich politikwissenschaftlicher Ausbildung gezählt werden. Weil es dem Autor überdies gelungen ist, für seine Überlegungen eine sprachliche Gestalt zu finden, die stets sensibel bleibt für Bedeutungsunterschiede, gegenüber der Fachterminologie jedoch angemessene Distanz wahrt, sollte das Buch mit einem breiten Publikum auch außerhalb universitärer Arbeitszusammenhänge rechnen können. Inhalt: Prolog: Die Debatte über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht am 13. März 1997. Die 50er Jahre: Generation ohne Abschied: Stimmen des Anfangs; Konrad Adenauer; Theodor Heuss; Symbole der Kontinuität; Eine Probe aufs Exempel der neuen Demokratie: Der Fall John; Eine erste Zwischenbilanz. Die 60er Jahre: Demokratie und Schuld: Antisemitismus und christliche Demokratie; Die formierte Gesellschaft; Die Verjährungsdebatten der 60er Jahre; Die Große Koalition. Die 70er Jahre: Kinder Hitlers oder Kinder der Demokratie: Der 8. Mai 1970; Studentenprotest und Verfassungsordnung; Der Deutsche Herbst; Die abschließende Debatte über die Verjährbarkeit von Völkermord. Die 80er Jahre: Demokratie und Nation: Die Politik mit der Geschichte; Auschwitz und die Friedensbewegung; Die Gnade der späten Geburt; Weizsäckers Kontrapunkt zu Kohls Gedächtnispolitik; Jenningers Skandalrede; Das Ende der Nachkriegszeit; Der 9. November in Deutschland; Die deutsche Einheit. Die 90er Jahre: Sieg des Lebens? Schuld des Lebens?: Bonner versus Berliner Republik; Die Verhüllung des Reichstags; 50 Jahre nach dem 8. Mai. Bilanz und Ausblick: Gespaltene Erinnerung: Antifaschismus und Antitotalitarismus; Moralische Souveränität; Die Balance des Erträglichen.
Thomas Mirbach (Mir)
Dr., wiss. Mitarbeiter, Lawaetz-Stiftung Hamburg, Lehrbeauftragter, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.3212.312 Empfohlene Zitierweise: Thomas Mirbach, Rezension zu: Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte. München/Wien: 1999, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/8091-niemand-ist-frei-von-der-geschichte_10698, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 10698 Rezension drucken
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