Weil Armut gegen egalitäre Grundsätze moderner demokratischer Gesellschaften verstößt, ist eine angemessene Konzeption des Armutsbegriffs stets gleichermaßen auf normative wie auf politische Prämissen angewiesen. Der normative Kontext, auf den sich diese Studie bezieht, ist die in den 60er-Jahren in Lateinamerika entstandene „Theologie der Befreiung“. Weil diese jedoch ihre praktischen Impulse vielfach mit letztlich unzureichenden marxistischen Annahmen zu begründen versuchte, möchte der Autor die ursprüngliche Intention der Theologie der Befreiung durch eine die Mikroperspektive des Handelns betonende Zusammenführung von erkenntnistheoretischen, gesellschaftstheoretischen und sozialethischen Überlegungen stärken. Für diese Zwecke bezieht er sich zunächst auf die Arbeiten des Phänomenologen Xavier Zubiri, eines Schülers von Husserl und Heidegger. Anschließend dient Giddens Theorie der Strukturierung als Bezugsrahmen, mit dem ein nicht reduktionistischer Begriff sozialen Handelns gewonnen werden soll. Die sozialethische Perspektive, entwickelt an den Schriften Amartya Sens, stellt schließlich in Abgrenzung von wohlfahrtsökonomischen Nutzendefinitionen das Konzept der individuellen Fähigkeiten als wesentliche Bezugsgröße einer Armutsdefinition heraus. Vor diesem Hintergrund müsste die befreiungstheologische „Option für die Armen“ über wirtschaftspolitische Maßnahmen hinaus immer auch Investitionen in soziale Programme vorsehen, die dem individuellen Engagement konkrete Handlungsperspektiven eröffnen.