/ 04.06.2013
Rainer Rotermundt
Plädoyer für eine Erneuerung der Geschichtsphilosophie
Münster: Westfälisches Dampfboot 1997 (Einsprüche 7); 130 S.; 29,80 DM; ISBN 3-89691-419-7Der Titel des Buches umreißt nur teilweise, was seinen Leser erwartet. Denn es geht darin weniger um die Frage, wie der Verlauf der Geschichte theoretisch auf den Begriff gebracht werden kann, als vielmehr um ein angemessenes philosophisches Verstehen unserer Gegenwart. Zu diesem Zweck greift Rotermundt auf die Geist- und Freiheits- und Geschichtsphilosophie Hegels sowie die Gesellschaftstheorie Marxens zurück. Bereits hier liegen zwei Verdienste, die das Büchlein lesenswert machen: Zum einen bietet Rotermundt eine zwar gedrängte, aber gleichwohl luzide Interpretation der beiden Denker - besonders Hegels - und zum anderen erinnert der Autor auf eine nach all den Zweihundertjahrfeiern erfrischende Weise daran, daß das politische Philosophieren nicht mit Kant endete. So versteht Rotermundt seine Schrift als "polemischen Essay, der darauf aus ist, Mitdenker, Mitgrübler zu suchen, die versuchsweise zum jenseitigen Ufer des Flusses Kant aufbrechen wollen" (14). Zu zeigen, daß an diesem Ufer bei Hegel und Marx tatsächlich lohnende theoretische Früchte für ein Begreifen unserer Zeit zu finden sind, ist ein drittes Verdienst Rotermundts. Dabei muß man seinen Befunden gar nicht zustimmen und auch die sich andeutende Zivilisationskritik nicht teilen. Doch man kommt nicht umhin, Rotermundts Antworten ernst zu nehmen. Denn diese Antworten verweisen vor dem Hintergrund der Dynamik der ökonomischen Entwicklung auf zwei Fundamentalprobleme, die in den gegenwärtigen theoretischen Debatten oft nicht einmal als Fragen angemessen begriffen werden. Nämlich erstens: Welches Verständnis von Freiheit prägt das gegenwärtige Bewußtsein und warum? Zweitens: Was bedeutet angesichts des fortgeschrittenen Entwicklungsprozesses kapitalistischer Ökonomie heute "Arbeit"? Rotermundts Antworten sind ebenso provokativ wie scharfsinnig und ebenso hintergründig wie scharfzüngig. So bezeichnet er als die gegenwärtige Verkehrung des Bewußtseins "die Gleichsetzung von Geld und Freiheit" (94) und verweist auf die Paradoxie, daß in der heutigen Gesellschaft Reichtum über Arbeit definiert wird, der Fortschritt der Produktivität aber gerade eine weitere Steigerung des so verstandenen Reichtums immer unwahrscheinlicher werden läßt. Von hier aus kann Rotermundt beispielsweise feststellen: "Auf der einen Seite gilt [...] dem Bewußtsein Arbeit, die sich nicht in Geld verwandelt, nicht wahrhaft für eine solche, und das Geld erst als Freiheit. Auf der anderen Seite erweist sich immer weniger Arbeit als in Geld verwandelbar, die Freiheit damit als immer weiter eingeschränkt." (107) Die Vermutung, hier wolle jemand einen Neo-Neomarxismus an den Leser bringen, läge hier ebenso falsch wie diejenige, daß uns Heutigen Reflexionen, die sich auf Marx berufen, doch nichts mehr zu sagen hätten. Rotermundt zeigt vielmehr, daß wir sehr wohl von Marx - und mehr noch von Hegel - lernen können.
Michael Henkel (MH)
Priv.-Doz. DR., Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena.
Rubrizierung: 5.42 | 5.33
Empfohlene Zitierweise: Michael Henkel, Rezension zu: Rainer Rotermundt: Plädoyer für eine Erneuerung der Geschichtsphilosophie Münster: 1997, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/4211-plaedoyer-fuer-eine-erneuerung-der-geschichtsphilosophie_5930, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 5930
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Priv.-Doz. DR., Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena.
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