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/ 11.06.2013
Martin Blobel

Polis und Kosmopolis II. Politik im Kairos: Kritische Revue der politischen Bewegungen im Paris des neunzehnten Jahrhunderts in Walter Benjamins mittlerem Passagenwerk

Würzburg: Königshausen & Neumann 2000; 259 S.; brosch., 78,- DM; ISBN 3-8260-1802-8
Mit Erscheinen des zweiten Teilbandes legt Blobel den Schlussstein seiner Benjamin-Trilogie vor. Nachdem er im ersten Teil, "Polis und Kosmopolis I" (siehe ZPol 1/01: 482), Benjamins frühes Passagenwerk (1927-30) in den Blick nahm und im dritten Teil, "Polis und Kosmopolis III" (siehe ZPol 1/01: 482 f.), den in der Poetik Baudelaires gespiegelten Politikbegriff als "tätig gestaltende, begehrlich schaffende Nachahmung des Ewigen" (Polis und Kosmopolis III [11]) analysierte, setzt er sich im zweiten Band mit dem mittleren Passagenwerk auseinander (1930-37). Dort behandle Benjamin die Pariser "Passagen" nicht mehr als Spiegel jenes erstarrten quietistischen Totenkultes, den er als Reaktion auf das Scheitern der Französischen Revolution deutet, sondern als Vexierbild einer zu politischer Praxis erwachten Gesellschaft. Zentral in der politischen Philosophie des nachrevolutionären 19. Jahrhunderts sei der Begriff der Geschichte. Sie werde nicht mehr innerhalb des identitätsphilosophischen Konzepts Hegels als "Versuch, die griechische Polis und ihre Maßverhältnisse [...] nachrevolutionär wiederzugewinnen" (12) gefasst, sondern diese dem Totenkult verhaftete, gewissermaßen schauende Historie werde durch eine praktische Geschichtsbetrachtung, die zugleich Geschichtspolitik wird, ersetzt. Den Übergang vom praxisfernen Totenkult zum praxisorientierten historischen Materialismus vollziehe Benjamin auf der Folie der Psychoanalyse, deren Begriffe er politologisch reformuliere: "Im Bereich zwischen Traum und Erwachen erkennt Benjamin die Schwellenzone zwischen Totenkult und Praxis wieder" (14). Zentral in der Studie Blobels ist der Terminus "Kairos", den er als "günstigen Augenblick" (14) übersetzt. Benjamins Konzept einer kairologischen Politik betone nachdrücklich die Einzigartigkeit des historischen Moments und verwahre sich jeder dogmatischen Einreihung in universalistische Entwicklungsgesetze etwa des dogmatisch erstarrten Materialismus. Das "Jetzt des Seins" (15) im mittleren Passagenwerk lasse sich als dialektischer Widerpart jenes totenhaft erstarrten Seins nach der Revolution interpretieren, das Thema von Blobels erster Studie war. Diese Untersuchung reiht sich stringent in die Trilogie des Autors ein und schließt lückenlos jene Kluft, die die bislang erschienenen Teile eins und drei getrennt hatte. Damit bleiben jedoch auch dieselben Probleme virulent, die der politikwissenschaftlich interessierte Leser mit "Polis und Kosmopolis I und III" hatte. Erneut muss der bereits im Titel zentrale Begriff "Politik" sehr weit interpretiert werden. Zwar mag der Rekurs auf Aristoteles die Ineinssetzung von Politik und praktischer Philosophie legitimieren; doch unterläuft der Autor damit Differenzierungen, die einen politikwissenschaftlich geschärften Politikbegriff gerade auszeichnen. Es steht außer Frage, dass Blobel eine eigenwillige, literarisch sehr lesenswerte, wenn auch manchmal unnötig verkomplizierende Benjamin-Interpretation vorlegt - ob allerdings das Konzept einer kairologischen Politik zu mehr als lediglich heuristischen Anknüpfungen Anlass gibt, darf bezweifelt werden.
Florian Weber (FW)
M. A., wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena.
Rubrizierung: 5.46 Empfohlene Zitierweise: Florian Weber, Rezension zu: Martin Blobel: Polis und Kosmopolis II. Würzburg: 2000, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/12055-polis-und-kosmopolis-ii_14381, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 14381 Rezension drucken
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