/ 04.06.2013
Hans-Ulrich Wehler
Politik in der Geschichte. Essays
München: C. H. Beck 1998; 269 S.; 22,- DM; ISBN 3-406-42040-0Wie gewohnt souverän, kritisch und provokativ: die ersten sechs politischen Essays des Bielefelder Historikers kreisen um die Frage des "Zivilisationsbruchs" in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur (Goldhagendebatte/8. Mai-Kontroverse), dessen Tiefendimension in der europäischen Geschichte zurückverfolgt wird.
Der zweite Teil lenkt in mehreren Beiträgen erneut auf die Debatte des deutschen "Sonderwegs" auf dem Modernisierungspfad in das 20. Jahrhundert. Dabei wird die geopolitische Lage als entscheidende Entwicklungsbedingung der deutschen Staaten zu Recht zurückgewiesen - was sich allerdings kaum als forschungstheoretisches Novum ausweisen läßt - ebensowenig wie die alte Frontstellung gegen Ernst Noltes "ahistorischen Reduktionismus" der Hitler-Figur auf einen Anti-Lenin. "Wieviel lohnender ist dagegen", wie Wehler in einem überraschenden Themenwechsel anmerkt, "die Verteidigung des Bundesverfassungsgerichts gegen seine Gegner" (9). Gemeint sind der Journalist Fromme (FAZ), die Politiker Maier, Stoiber, Rühe u. a. mit ihren "Dauerpolemiken" gegen die Straffreiheit der Anti-Atom-Demonstranten oder gegen das "Soldaten sind Mörder"-Urteil.
Die Essays des dritten Teils greifen in gegenwärtige Kontroversen innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft ein. Sie kritisieren mit Verve das Verhaftetbleiben von "Experten der Außenpolitik" in der geistigen Welt der Neurankeaner vor 1914, besprechen die lang erwarteten ersten beiden Bände des "Handbuchs der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands" und kontrastieren die Bismarck-Biographien Lothar Galls und Michael Stürmers "zwischen der ruhigen Souveränität des Fachmanns und der Nemesis der Hektik" (9) - wobei Wehler Geschichtswissenschaft irritierend ungeniert als Männerbund von "Fachmännern" und "Zunftgenossen" präsentiert. Konsequenterweise kann er sich zukünftig keine andere erfolgreiche Biographie vorstellen als neben denen der "charismatischen Führerpersönlichkeiten" Napoleons und Bismarcks ausgerechnet noch eine Adenauerbiographie.
Die grundsätzliche Beantwortung der Herausforderung durch die "neue Kulturgeschichte" wird auf den nächsten Band verschoben, was angesichts seiner Aussagen zur Geschlechtergeschichte und zur Diskursanalyse aufhorchen läßt: "Was denn die Geschlechtergeschichte zur präzisen Klärung wesentlicher Probleme der neueren deutschen Geschichte beitragen könnte", kommt Wehler nicht in den Sinn, angesichts der großen Probleme der Geschichte, "die einem sofort einfallen": die drei großpreußischen Hegemonialkriege der 1860er Jahre; die Sonderwegs-Debatte; die charismatische Herrschaft der Diktatur Hitlers usw. (104). Der Diskursanalyse wirft er eine mangelnde Beachtung der "gesellschaftlichen Akteure" als den "eigentlichen Protagonisten des historischen Prozesses" vor. Man darf gespannt sein, bald differenzierter über "Anregungspotential" und "Irrwege" der neuen Kulturgeschichte informiert zu werden. Mit der "unkritischen Bewunderung von Modeautoren und Modetrends" (136) ist dann wohl endgültig Schluß.
Claudia Bruns (CB)
Dr., Historikerin.
Rubrizierung: 2.31
Empfohlene Zitierweise: Claudia Bruns, Rezension zu: Hans-Ulrich Wehler: Politik in der Geschichte. München: 1998, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/5458-politik-in-der-geschichte_7142, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 7142
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Dr., Historikerin.
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