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/ 03.06.2013
Gesine Schwan

Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens

Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1997; 283 S.; 19,90 DM; ISBN 3-596-13404-8
Daß Schuld ein Thema der Politik ist, hat gerade das 20. Jahrhundert immer dann erfahren, wenn Unrechtssysteme überwunden werden konnten - insbesondere solche, deren Verbrechen das Maß des Verzeihbaren und strafrechtlich zu Ahndenden zu sprengen schienen. Daß Schuld damit zugleich nicht nur ein Thema, sondern ein Fundamentalproblem einer der Demokratie verpflichteten Politikwissenschaft darstellt, zeigt Gesine Schwans Buch eindringlich. Denn ohne Umschweife zwingt die Frage, wie politisch mit Schuld umzugehen sei, zu jener ethischen und anthropologischen Grundentscheidung, die normatives Reden über Politik erst ermöglicht: "Entweder wir sind als Menschen frei, damit verantwortlich, damit schuldfähig - und Diktaturen stellen uns dann nur erheblich härter auf die Probe als Demokratien -, oder wir sind es nicht." (15) Schweigen über Schuld - so die These Schwans - hilft nur scheinbar und verursacht hohe Kosten: "Moralische Schuld vererbt sich nicht [...], aber die psychischen und moralischen Folgen ihres Beschweigens beschädigen noch die folgenden Generationen und den Grundkonsens einer Demokratie." (17) Die These wird in sieben Kapiteln entfaltet: Die ersten beiden Kapitel ("Schuld - eine Grundbefindlichkeit des Menschen", 19-38; "Gemeinsamkeiten der geschichtlichen Schuldverständnisse", 39-59) sind anthropologischen Überlegungen der Schulderfahrung gewidmet, wobei der Bogen vom Mythos über biblische Antworten bis zu Jaspers und dem modernen Strafrecht geschlagen wird. Hier werden an den Traditionen der Selbstauslegung menschlicher Schulderfahrung die Kategorien entwickelt, um die es geht: Freiheit, Verantwortung, Vertrauen, Person und persönliche Identität. Das dritte Kapitel ist Erfahrungen im Umgang mit Schuld gewidmet (60-68). Es mündet in eine Präzisierung der These, "daß die scheinbar schonende Bewahrung der Menschen davor, ihnen ihr Handeln prinzipiell als Schuld zuzurechnen, sie im Endeffekt zum Objekt von Fremdbestimmung macht und den Zugang zur Selbstbestimmung systematisch und definitiv verstellt" (67). Am Beispiel des Nationalsozialismus wird in Kapitel IV (69-123) geklärt, was die Autorin unter "beschwiegener Schuld" versteht. An konkreten Beispielen pathologischen Umgangs mit Schuld in diesem Kontext wird "das Beschweigen der inneren Gründe, [...] die Weigerung, mich der ehrlichen Selbstprüfung zu unterziehen" (103) als die eigentliche freiheitszerstörende Schuld herauspräpariert. Verlust von Vertrauen, aus Verletztheit und Verletzlichkeit resultierende Unsicherheit, und vor allem: neurotische Familienstrukturen sind die Folge, deren differenzierter Pathologie das fünfte Kapitel über "psychische und soziale Folgen des Beschweigens" (124-163) gewidmet ist. Nach diesen sozialpsychologischen und -anthropologischen Vorklärungen wendet sich Schwan der politischen Kultur in Deutschland zu (VI. Beschädigung der Demokratie, 164-216). Der Ausgangsbefund besagt: "Die innere Befindlichkeit der Deutschen, die in dem Maße bedeutsamer wird, wie die objektiven Institutionen an Gewicht für die Willens- und Entscheidungsbildung verlieren, ist wenig klar" (173). Gerade weil mehr denn je gute Bürger gefragt seien, müsse auch über die psychischen und anthropologischen Grundlagen eines Bürgerethos neu nachgedacht werden. Schwan sucht das Verständnis liberaler Autonomie aus seiner bisherigen Verengung auf Individualität und Rationalität (195) zu befreien; die Begriffe Empathie, Vertrauen, Kooperation gewinnen hier ihre eigentliche politische Bedeutung - nicht als kommunitaristische Kampfbegriffe, sondern als Kategorien personaler Selbstverständigung über die "Binnenbefindlichkeiten" (215) liberaler Autonomie und Demokratie (vgl. etwa 180 ff.). Wie aber "das Beschweigen gemeinsam überwinden" (Kapitel VII, 217-250)? Die Stärke des Schlußkapitels liegt nicht in der Rezeptur, sondern in der Kritik: Zwar werden Wege und Mechanismen zur Überwindung beschwiegener Schuld genannt: Normen, Schuld aussprechen, Verzeihen, Grundkonsens, Gerichtsverfahren und Wahrheitskommissionen, öffentliche Debatten, aber zugleich werden ihre Grenzen und ihre Gefahren bezeichnet. Denn auch diese Wege und Mechanismen sind nicht mehr als Bedingungen verantwortlicher politischer Existenz; sie können scheitern und mißbraucht werden. Ihre Chance freilich liegt darin, daß sie einen "an Wahrhaftigkeit ausgerichteten common sense" (246) befördern können. Gesine Schwan hat mit diesem Buch in moderner, engagierter Sprache ein Denken, das man als "philosophische Existenzerhellung" bezeichnet hat, für die Politikwissenschaft fruchtbar gemacht. Sie stößt damit zum Kern des Freiheitsproblems vor. Die Lektüre macht erlebbar, daß Demokratie auf engagiertes und wahrhaftiges Reden über Grenzerfahrungen angewiesen ist vor allem über den Anspruch, jene Grenze zu respektieren, die uns kategorisch sagt: Du sollst!
Klaus Dicke (KD)
Prof. Dr., Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena.
Rubrizierung: 5.42.352.3122.255.415.425.44 Empfohlene Zitierweise: Klaus Dicke, Rezension zu: Gesine Schwan: Politik und Schuld. Frankfurt a. M.: 1997, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/1943-politik-und-schuld_2322, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 2322 Rezension drucken
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