/ 17.06.2013
Reinhard W. Sonnenschmidt
Politische Gnosis. Entfremdungsglaube und Unsterblichkeitsillusion in spätantiker Religion und politischer Philosophie
München: Wilhelm Fink Verlag 2001; 286 S.; kart., 34,77 €; ISBN 3-7705-3626-6Habilitationsschrift Duisburg; Gutachter: C.-E. Bärsch, H. Herwig, P. Weber-Schäfer. - Sonnenschmidts interessante Frage lautet, ob sich aus der Gnosis eine Wesensverwandtschaft von Spätantike und Moderne folgern lässt. Denn die Gnosis sei als ein "Ferment abendländischer Bewusstseinsgeschichte" (12) von Bedeutung, sie sei ein "bisher ungehobenes Repertoire an mytho-kosmologischem Wissen" (35). Anstelle des gläubigen Vertrauens, das im Christentum vorherrsche, trete in der Gnosis "die kognitive, kosmologische Spekulation" (24) in den Vordergrund. "Grundsätzlich besteht die intellektuelle Leistung der Gnosis in der Entdeckung eines Selbst, die zusammengedacht wird mit der Teilhabe des Menschen an der göttlichen Substanz." (35) Zu den Hauptelementen zählten die Auffassung von der Sinnlosigkeit der Existenz, von der Armseligkeit der Natur, von der Abscheu der Zeugung und von dem Ärgernis des Todes. Nach der Quellenlage geht der Autor davon aus, dass die Gnosis älter ist als das Christentum. Die gnostische Religion der spätantiken Sekten zeichne sich durch eine Spaltung in ein "Welt-Ich" und ein "Gott-Ich" aus sowie in den Dualismus von Männlichem und Weiblichem. Das Weibliche werde dabei eindeutig und ausschließlich negativ definiert. Diese Frauenfeindlichkeit lasse sich laut Sonnenschmidt auch in der Lehre Platons finden, die in diesem Punkt mit der Gnosis übereinstimme. Die Diskriminierung der Frauen habe also Ursprünge, die sich bis in die Spätantike und weiter zurückverfolgen lassen. Überhaupt, so zitiert der Autor Stephan Otto, wurzeln 'die bewegenden Fragestellungen des 19. und 20. Jahrhunderts (...) in jener geistigen Konstellation, die sich in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung durch den Zusammenprall von griechischem, gnostischem und christlichem Denken herauskristallisierte' (139). In der Moderne sei die Gnosis nicht mehr bloß religiös, sondern auch politisch zu verstehen. Sonnenschmidt setzt sich kritisch mit der Philosophie Eric Voegelins auseinander. Dieser sei der Ansicht gewesen, dass das Wesen der Modernität der Gnostizismus sei. Der Autor sieht die Bedeutung Voegelins aber vor allem darin, dass dieser Symbole benannt habe, die das Verständnis moderner Gnosis erleichtern. Deren Hauptkriterien sind Entfremdung und Unsterblichkeit. Moderne gnostische Positionen ordnet Sonnenschmidt Hobbes, Hegel, Marx und Lukács zu, außerdem Gehlen und Adorno. "Das Fremdartige an dieser modernen Gnosis ist die Weigerung, ihre implizit oder explizit formulierten religiösen Implikationen zu reflektieren, wie es die spätantike Gnosis noch getan hat." (259) Als gnostische Massenbewegungen seien Marxismus und Nationalsozialismus anzusehen, die die Entfremdung aufheben wollten. "Dieser Drang zur Selbsterlösung, der mit der Selbstvergottung des Menschen legiert ist, bedeutete die Tötung Gottes durch die gnostischen Theoretiker, auf die der Menschenmord der revolutionären Praktiker folgt." (255) Als Themen neuer politikwissenschaftlicher Forschung benennt der Autor die so genannten Neuen Religiösen Bewegungen wie Scientology. Diesem neuen Typus von Ideologie müsse sich die Forschung stellen, "will sie nicht im Windschatten der sich auflösenden Postmoderne sterile Positionen stur verteidigen und sich dabei von modernen gnostischen Aktivisten links und rechts überholen lassen" (265).
Inhaltsübersicht: I. 1. Ergebnisse und Definitionen der Gnosisforschung; 2. Gnosis, Judentum und das Problem des Menschenopfers; 3. Gnosis als Mythos. II. 4. Jüdische und/oder gnostische Quellen mytho-kosmologischen Wissens; 4.1 Qumransekte samt Schriftrollen (150 v.u.Z. bis 68 u. Z.); 4.2 Nag' Hammadi Codices (2./3. Jahrhundert u. Z.); 4.3 Mandäismus (3. Jahrhundert u. Z.); 4.4 Manichäismus (3. Jahrhundert u. Z.). III. 5. Von der Ideologie zur Wissenschaft? Eric Voegelin und die Gnosis: Kritik, Voraussetzungen, Fragen; 6. Vom Gnostischen Traum zur Rationalität? Eric Voegelins Gnosis-Kritik und neuzeitliche politische Philosophie: Eine Revision; 6.1 Obsession: Thomas Hobbes; 6.2 Egophanie: Georg Wilhelm Friedrich Hegel; 6.3 Revolte: Karl Marx. 7. Die moderne Überwindung der Gnosis? Zur Ideologie der Bedürftigkeit: Kritik einer Illusion; 7.1 Zucht, Bedürfnis und Askese oder: Die Abschaffung des Trieblebens (Arnold Gehlen); 7.2 Versöhnung, Frieden und Ruhe oder: Das Versprechen von Glück (Theodor W. Adorno); 7.3 Arbeit, Herrschaft und Freiheit oder: Der Sprung zur Menschwerdung (Georg Lukács); Exkurs: Ist der Nationalsozialismus "gnostisch".
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 5.3 | 5.4
Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Reinhard W. Sonnenschmidt: Politische Gnosis. München: 2001, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/15925-politische-gnosis_18213, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 18213
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