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/ 02.10.2013
Domenico Losurdo (Hrsg.)

Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende. Mit einem Essay von Luciano Confora. Aus dem Italienischen von Erdmute Brielmayer

Köln: PapyRossa Verlag 2013 (Neue Kleine Bibliothek 183); 451 S.; 22,90 €; ISBN 978-3-89438-496-8
Das vernichtende Urteil, das die Geschichte über den Diktator Stalin, den Stalinismus und überhaupt über den real existierenden Sozialismus gesprochen hat, scheint für Domenico Losurdo, Publizist, Professor für Philosophie an der Universität Urbino und über Jahrzehnte Parteigänger der italienischen Kommunisten, nicht akzeptabel. Er nähert sich deshalb Stalin noch einmal neu – der Person, dem Politiker, dem Theoretiker. Seine Analyse setzt mit der Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 an. Dieser habe Stalin nach dessen Tod aus politischem Kalkül zur negativen Figur gemacht, so der Vorwurf. Im Folgenden versucht Losurdo, Stalin von allen möglichen Zuschreibungen zu befreien, angefangen von der, unvorbereitet in den Zweiten Weltkrieg gestolpert zu sein. Stattdessen würdigt er ihn als großen Theoretiker etwa der nationalen Frage. In der Argumentation verwebt Losurdo die – angenommenen – theoretischen Prämissen der Diktatur mit den ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Stalin und Trotzki sowie etwa Hinweisen auf Hegel. Diese – wie er es nennt – philosophische Herangehensweise an die Klärung der sowjetischen Geschichte rechtfertigt er unter Rückbezug auf eine Aussage Lenins. Immer wieder erwähnt wird aber auch die grausame Realität der Diktatur. Allerdings verklärt Losurdo zum Beispiel die sogenannten Säuberungen und damit die völlig willkürliche Verfolgung vermeintlicher oder tatsächlicher Gegner des Stalinismus als Bürgerkrieg – und relativiert damit Stalins Einfluss auf das Geschehen. Diese Deutung passt zwar zur systemimmanenten Auslegung des Stalinismus, ist aber zugleich eine Fehlinterpretation der Literatur etwa von Anne Applebaum und anderen Historikern, auf die Losurdo sich stützt. Deren Arbeiten liegt eine grundsätzlich andere Aussage zugrunde, mit der Stalin in die volle Verantwortung für sein – und keineswegs nur nach ihm benanntes – System genommen wird. Gänzlich grotesk gerät die Argumentation, wenn Losurdo die Schrecken der Stalin’schen Herrschaft und des Gulag‑Systems nicht nur unter Hinweis auf den Nationalsozialismus einzuordnen versucht, sondern mit dem Argument, England habe Strafgefangene und sozial Aussätzige zwangsweise nach Australien verschifft, als historisch keinesfalls ungewöhnliches Phänomen ohne belastbare Analysekriterien zu relativieren versucht. Insgesamt ist das Buch – einschließlich des Essays von Luciano Canfora über Gorbatschow und aktuelle Feindbilder des Westens – allenfalls Erbauungsliteratur für unbelehrbare Altkommunisten. Dem eigenen Anspruch, Stalin angemessen in der Weltgeschichte zu verorten, wird es nicht gerecht.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.12.622.22.252.224.1 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Domenico Losurdo (Hrsg.): Stalin. Köln: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/36254-stalin_44314, veröffentlicht am 02.10.2013. Buch-Nr.: 44314 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken
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