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/ 06.06.2013
Dirk Martin

Überkomplexe Gesellschaft. Eine Kritik der Systemtheorie Niklas Luhmanns

Münster: Westfälisches Dampfboot 2010; 236 S.; 29,90 €; ISBN 978-3-89691-753-9
Diss. Frankfurt a. M. – Luhmanns Systemtheorie stellt für die Politikwissenschaft eine Herausforderung und Provokation zugleich dar. Seiner Konzeption moderner Gesellschaft zufolge bildet das politische System nur noch eines unter mehreren gesellschaftlichen Funktionssystemen und mit dieser Platzierung ist zugleich die These verknüpft, politische Theorie sei eher Reflexionstheorie eines Funktionssystems und weniger methodisch-distanzierte Beobachtung des Politischen. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Werk – das eine universale Theorie des Sozialen zu sein beansprucht – stößt auf die Schwierigkeit, dass metatheoretische Prämissen und materiale Analysen sich gegenseitig zu immunisieren scheinen. Der Autor ist sich dieser Schwierigkeit sehr wohl bewusst und möchte im Sinne einer Analyse der das Luhmann’sche Werk durchziehenden Begriffspolitik dessen überwiegend implizit bleibenden normativen Gehalt herausarbeiten. Dabei folgt er zum einen der Entwicklung der Systemtheorie von Luhmanns ersten Abhandlungen über Grundrechte, Organisationstheorie und das politische System bis hin zur sogenannten autopoietischen Wende, die eine selbstreferenzielle Autonomie der gesellschaftlichen Funktionssysteme postuliert. Zum anderen konzentriert er sich auf zentrale begriffliche Konzeptualisierungen – symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, strukturelle Kopplungen sowie die Unterscheidung von Codes und Programmen – mit denen Luhmann seinen Ansatz der funktionalen Differenzierung untermauert. Im Zuge dieser „Paradigmenkritik“ (10) von Luhmanns frühen Distanzierungen gegenüber einem offensiven Demokratieverständnis, seiner Polemik gegen den Wohlfahrtsstaat während er 80er-Jahre und der späten Thematisierung von Prozessen sozialer Exklusion wird ein latenter Konservatismus deutlich, der als soziologische Deskription ausgibt, was eigentlich durch begriffliche Operationen vorentschieden ist. Das gilt zumal für die pauschale Behauptung der Autonomie der Funktionssysteme, hinter der sich – so Martin – nur ein spezifisches, eben das kapitalistische Differenzierungsregime verberge.
Thomas Mirbach (MIR)
Dr., wiss. Mitarbeiter, Lawaetz-Stiftung Hamburg, Lehrbeauftragter, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.
Rubrizierung: 5.465.42 Empfohlene Zitierweise: Thomas Mirbach, Rezension zu: Dirk Martin: Überkomplexe Gesellschaft. Münster: 2010, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/9075-ueberkomplexe-gesellschaft_35561, veröffentlicht am 13.04.2010. Buch-Nr.: 35561 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken
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