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/ 04.06.2013
Thomas Herz / Michael Schwab-Trapp

Umkämpfte Vergangenheit. Diskurse über den Nationalsozialismus seit 1945

Opladen: Westdeutscher Verlag 1997; 286 S.; kart., 58,- DM; ISBN 3-531-13037-4
Anhand von exemplarischen Einzelfallstudien öffentlich ausgetragener Konflikte über die Zeit des Nationalsozialismus nach 1945 wird versucht, die Veränderung der politischen Kultur in der Bundesrepublik nachzuzeichnen. Die Beiträge sind aus einem von der DFG finanzierten Forschungsprojekt des Ende 1995 verstorbenen Herz hervorgegangen und wurden zum Teil bereits publiziert. Die Autoren gehen von der Annahme aus, daß Konflikte über den Nationalsozialismus und seine Deutung stets auch Konflikte über die Normen und Werte darstellen, die das politische System der Bundesrepublik Deutschland tragen und die Legitimität der letzteren konstituieren. Dieser allgemeine Ausgangspunkt wird kombiniert mit einer Kritik der bisherigen Political culture-Forschung, deren Defizit unter anderem darin erkannt wird, daß sie gängige Sichtweisen der nationalsozialistischen Vergangenheit stütze und damit dazu beitrüge, daß aktuelle rechtsextreme Entwicklungen aus ihrem Bezug zur nationalsozialistischen Vergangenheit gelöst würden, was eine problematische Legitimierung der gegenwärtigen Verhältnisse als "normal" zur Folge habe. Dem konventionellen Konzept politischer Kultur stellen die Autoren einen eigenen Ansatz entgegen, der mit den Begriffen der Basiserzählung, der Basisgeschichten und des Basisdiskurses arbeitet. Diese semantischen Phänomene dienen der kollektiven Verständigung über die - in diesem Fall nationalsozialistische - Vergangenheit. So schreibt etwa Schwab-Trapp: "Die sozialen Akteure in Auseinandersetzung um die NS-Zeit bedienen sich der Basiserzählung als einem tradierten Fundus von Geschichten, die in den Narrationen des Alltags wurzeln. Dieser Fundus besteht aus einer begrenzten Anzahl von Geschichten, die gleichsam präformierte Lösungen für die kommunikativen Probleme im Umgang mit dem Nationalsozialismus liefern." (226) Die hieran sich anschließenden Überlegungen sind bedenkenswert und anregend, jedoch kann man sich fragen, ob sie von den Autoren nicht in eine etwas zu enge Perspektive gerückt werden. Diese ist geprägt von einigen problematischen Annahmen, etwa derjenigen, daß die bundesdeutschen "Diskurse" um den Nationalsozialismus das Ziel verfolgten, "die NS-Vergangenheit zu neutralisieren" (260). Problematisch ist auch, daß die gegenwärtigen rechtsextremistischen Entwicklungen in einen zu unvermittelten Kontext mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gestellt werden. Dies trübt den Blick der Autoren für die Tatsache, daß der aktuelle Rechtsextremismus auch in Deutschland nicht einfach als Neonationalsozialismus verständlich wird, worauf die einschlägige Literatur immer wieder hinweist. Die insofern problematischen Sichtweisen der Autoren scheinen nicht zuletzt dadurch motiviert zu sein, daß sie sich insbesondere mit berühmten Kontroversen der Nachkriegszeit - namentlich mit den "Fällen" Globke und Filbinger - auseinandersetzen, die in unmittelbarer Beziehung zum Dritten Reich stehen. Übrigens wiederholt sich in Sachen Globke auch hier eine Weise des Umgangs, die man bereits aus vergangenen Debatten und Schriften zu diesem Thema gewohnt ist: Es ist schon vorher klar, daß das Gute und das Böse einfach zu erkennen sind. Deshalb braucht man sich auch nicht so genau um die Fakten zu kümmern. Denn wen interessiert schon, daß die Nürnberger Gesetze keineswegs die Vernichtung der deutschen Juden legalisierten, wie Herz und Boumann behaupten (57, Fn. 2), daß Rudolf Heß bereits 1941 in England inhaftiert war und deshalb 1943 nicht mehr Stellvertreter des Führers sein konnte (103) oder daß es eine deutliche Dramatisierung (wenn nicht gar einfach falsch) ist, die Deutsche Partei der Nachkriegszeit als "rechtsextrem" (65, Fn. 17) einzuordnen. Trotz solcher im Kontext eher zu vernachlässigenden Unzulänglichkeiten ist das Buch eine interessante Herausforderung nicht nur für die Political culture-Forschung. Inhalt: Thomas Herz / Michael Schwab-Trapp: Einleitung (7-9). Erster Teil: Thomas Herz / Michael Schwab-Trapp: Konflikte über den Nationalsozialismus nach 1945. Eine Theorie der politischen Kultur (11-36); Thomas Herz: Politische Kultur im neuen Staat. Eine Kritik der aktuellen Forschung (37-55). Zweiter Teil: Thomas Herz / Heiko Boumann: Der "Fall Globke": Entstehung und Wandlung eines NS-Konfliktes (57-107); Michael Schwab-Trapp: Kulturelle Ordnung und politisches Handeln. Der Fall Globke: "Einige emigrierten, andere blieben. Nicht alle konnten emigrieren." (109-138); Michael Schwab-Trapp: Pleiten Pech und Pannen. Kohls Spaziergang durch die Fettnäpfchen. Typische Argumente in einem Streit um Helmut Kohls Israelreise (139-166); Thomas Herz: Der Fassbinderstreit - ein Beitrag zur politischen Kultur(-forschung) der Bundesrepublik (167-192). Dritter Teil: Michael Schwab-Trapp: Narration und politischer Diskurs. Zur Transformation politischer Kultur im vereinigten Deutschland (193-216); Michael Schwab-Trapp: Ordnungen des Sprechens: Geschichten, Diskurse und Erzählungen über die NS-Zeit (217-247); Thomas Herz: Die "Basiserzählung" und die NS-Vergangenheit. Zur Veränderung der politischen Kultur in Deutschland (249-265); Thomas Herz: NS-Vergangenheit contra SED-Vergangenheit (267-286).
Michael Henkel (MH)
Priv.-Doz. DR., Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena.
Rubrizierung: 2.352.312 Empfohlene Zitierweise: Michael Henkel, Rezension zu: Thomas Herz / Michael Schwab-Trapp: Umkämpfte Vergangenheit. Opladen: 1997, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/4946-umkaempfte-vergangenheit_6516, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 6516 Rezension drucken
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