Skip to main content
/ 04.06.2013
Gerd Koenen

Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?

Berlin: Alexander Fest Verlag 1998; 452 S.; geb., 44,- DM; ISBN 3-8286-0058-1
"Gewesene Menschen" (168) lautete der Sammelbegriff für all jene, die zur Zeit der Entkulakisierung auf den Liquidationslisten der Stalinschen Säuberungskommandos standen. Das war nur konsequent angesichts der Tatsache, daß das kommunistische Experiment, wie Koenen am Beispiel der Sowjetunion ausführlich zu belegen unternimmt, auf die Schaffung des neuen Menschen zielte; den alten konnte man da nicht mehr brauchen. So findet die im Untertitel des Buches formulierte Frage: "Was war der Kommunismus?" ihre Anwort auch im Titel des Buches: Der Kommunismus bestand letztlich in nicht weniger als einer "Utopie der Säuberung", der Schaffung einer tabula rasa, der Ausmerzung all jener Reste aristokratischen, bürgerlichen und bäuerlichen Lebens, die sich dem präzedenzlosen Neuen zu widersetzen wagten. Doch auch wer sich nicht widersetzte, konnte GPU und NKWD zum Opfer fallen, weil das Morden bald seiner eigenen Logik folgte. Koenen geht es - im Gegensatz zu ideengeschichtlichen Ansätzen - nicht darum, die terroristische Praxis aus der marxistischen Ideologie abzuleiten. Vielmehr ist sein groß angelegter Essay darauf ausgerichtet, die "tatsächliche Triebfeder" (23) der Handelnden in ihren persönlichen Dispositionen, den historischen Bedingungen und den gesellschaftlichen Strukturen zu suchen. Der Weg führt ihn dabei von Lenins staatsstreichartiger Niederwalzung der ersten demokratischen Ansätze nach der Revolution über die Stalinzeit bis zur posttotalitären Periode und dem letzten Versuch, das Regime zu retten, den Gorbatschow unternahm. Für Koenen ist der Kommunismus "die eigentlich unbegriffene Erfahrung" (14) des 20. Jahrhunderts. Anders als beim NS-System haben hier Tabuisierung und Verharmlosung, Faszination und Wahrnehmungsverweigerung die Zurkenntnisnahme der in ihren Dimensionen schier unfaßlichen Greuel verhindert bis mit dem "Schwarzbuch des Kommunismus" eine neue Ära der Auseinandersetzung eröffnet war. Doch Koenens Ansatz unterscheidet sich von dem des Schwarzbuch-Autors Stephane Courtois ebenso wie von dem der traditionellen Totalitarismustheorie: Weder läßt sich nach Meinung des Autors der Kommunismus aus einer "kriminogenen Ideologie" (24) ableiten, noch ist das totalitäre Regime beispielsweise der SU nach dem Muster des NS-Regimes zu erklären, welches nach Koenen das eigentliche Paradigma der Totalitarismustheorie bildete. Koenen erblickt das wirklich Totalitäre dagegen in jenen Herrschaftsformen, die gegen den Willen der Bevölkerung eine völlig neue, mit allem Dagewesenen radikal brechende Gesellschafts"ordnung" durchzusetzen versuchten und dazu der rückhaltlosen "Säuberung" der alten Ordnung bedurften - eben in den kommunistischen Systemen. Der Terror war in ihnen nicht Entgleisung, sondern Bedingung, und daß der schrankenlose Zugriff auf Individuum und Gesellschaft oftmals nicht System, sondern Chaos gebar, ist für Koenen keineswegs Ausweis des nicht-totalitären Charakters solcher Regime. Vielmehr ist das Chaos logische Konsequenz des Versuchs, sich von einer Zentrale aus einer Gesellschaft in ihrer ganzen Komplexität und Differenziertheit zu bemächtigen und ihr einen Maßstab aufzuzwingen, dessen Anwendung seinerseits nichts anderes als Maßlosigkeit zum Ausdruck bringt. Letztlich erweisen sich die kommunistischen Systeme als "archaische Reaktionen auf jene enormen Schübe der Globalisierung, Pluralisierung, Individualisierung des Lebens, die die eigentliche Weltrevolution dieses Jahrhunderts ausgemacht haben" (27 f.). Die Revolution führte tatsächlich zur "Involution" (46), zur Rückbildung bestehender Differenzierungen und zur brutalen Auflösung aller gesellschaftlichen Strukturen, bis, zumindest in Rußland, nur noch jene "vormoderne[n] Zustände und Organisationsformen wie die Dorfgemeinschaften oder die Clans" (382) übrigblieben, auf denen ein stabiles politisches System zu gründen gegenwärtig so viel Probleme bereitet. Koenens lesenswertes Buch läßt allerdings noch eine Frage offen: ob der Autor seine vehement vorgetragene These, die "ideologischen Titel" seien bei diesem grausamen Experiment am lebenden Menschen "Schall und Rauch" (28) gewesen, letztlich durchhalten kann. Denn woher kam der Furor der Vernichtung, wenn nicht von der perversen Hoffnung, schon hier auf Erden die Verheißungen der Transzendenz verwirklichen zu können - wie auch Koenen zugeben muß (414 ff.)? Verweist nicht schon der Titel "Utopie der Säuberung" darauf, daß im Kommunismus einem ideellen Konstrukt Realität verschafft werden sollte? Gerade weil er mit dem Schein des Rechts auftrat, das er seinem menschheitserlösenden Ziel zu verdanken vorgab, erlangte er die Macht, Unrecht in einem Maße zu verüben, das noch immer jedes Vorstellungsvermögen sprengt.
Barbara Zehnpfennnig (BZ)
Prof. Dr., Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte, Universität Passau.
Rubrizierung: 2.225.42 Empfohlene Zitierweise: Barbara Zehnpfennnig, Rezension zu: Gerd Koenen: Utopie der Säuberung. Berlin: 1998, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/6342-utopie-der-saeuberung_8606, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 8606 Rezension drucken
CC-BY-NC-SA