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/ 04.06.2013
Alain Finkielkraut

Verlust der Menschlichkeit. Versuch über das 20. Jahrhundert. Aus dem Französischen von Susanne Schaper

Stuttgart: Klett-Cotta 1998; 176 S.; geb., 29,80 DM; ISBN 3-608-91903-1
Finkielkraut hat keine fertigen Erklärungen für die große Katastrophe unseres Jahrhunderts: den Verlust der Menschlichkeit. Aber er stellt Fragen, die mehr sind als Ausgangspunkte für das Suchen nach Antworten. Sie erhellen schlaglichtartig die Brüchigkeit der verschiedenen Glaubenslehren an die Menschlichkeit der Menschen. Sowohl das Vertrauen auf einen Fortschritt der Vernunft als auch das auf einen Sinn der Geschichte offenbarten in den beiden totalitären Regimen die je eigene mörderische Begrenztheit. Von der Ideologie instrumentalisiert - so eine These des Autors zu den nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschheit -, um den treffenden Begriff von Karl Jaspers aufzunehmen, dankte die Vernunft zugunsten der rationalen Kalkulation ab. Aber auch der vom Kommunismus propagierte Sinn der Geschichte zeigte in diesem Jahrhundert seine menschenverachtende Dimension: Um des Fortschritts der abstrakten Menschheit willen wurden Millionen von "Menschen aus Fleisch und Blut" (107) ermordet. "Was auch immer das selbstgesteckte Ziel sein mag, die absolute Verfügbarkeit der Geschichte und ihr Eintreten ins Reich des Möglichen und Machbaren setzen die Menschen einer uneingeschränkten Gewalt aus, denn sie entreißen ihnen jede ontologische Würde. Die Menschen sind nicht mehr als Bausteine eines gigantischen Gebäudes, Mittel, Hindernisse oder Skizzen eines Werkes, das im einen Fall Hierarchie, im anderen Gleichheit heißt." (132) Was sich nach diesen Erfahrungen als Ausweg anbot, so Finkielkraut, war die Rückkehr zu Rousseau. Das neue, alte Credo lautet: "Von jetzt an besiegt das Herz die Geschichte und kommt das Gefühl wieder zu seinem Recht." (139) Aber auch humanitäres Engagement lasse sich auf das "unendlich Unwägbare" nicht ein und entmündige mit seinem Reduktionismus die Opfer - in "Form einer einzigen immensen Bemutterung" (144). Damit aber wird "auf den Überblick über die Geschichte [...] zugunsten einer neuen Position der Unfehlbarkeit" (145) verzichtet. Die letzte quälende Frage bleibt unbeantwortbar: "Vergeblichkeit des 20. Jahrhunderts?" (176) Inhalt: Der Letzte der Gerechten; 1. Wer ist mein Mitmensch?; 2. Die Vorzüge des Gattungsnamens; 3. Der Triumph des Willens; 4. Die Ironie der Geschichte; 5. Die humanitäre Wiedergutmachung; 6. Von Engeln und Menschen.
Wolfgang Wagner (WW)
Diplom-Kaufmann, Dr. rer. pol., Politologe, Gütersloh.
Rubrizierung: 5.422.2 Empfohlene Zitierweise: Wolfgang Wagner, Rezension zu: Alain Finkielkraut: Verlust der Menschlichkeit. Stuttgart: 1998, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/5333-verlust-der-menschlichkeit_7001, veröffentlicht am 25.06.2007. Buch-Nr.: 7001 Rezension drucken
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