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/ 11.06.2013
Iris Wittenbecher

Verstehen ohne zu verstehen. Soziologische Systemtheorie und Hermeneutik in vergleichender Differenz. Mit einem Geleitwort von Armin Nassehi

Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 1999 (DUV: Sozialwissenschaft. Zugänge zur Moderne); XIV, 207 S.; brosch., 48,- DM; ISBN 3-8244-4361-9
Philosophische Diss. Münster; Gutachter: A. Nassehi. - In der Überschrift ist das Programm der Arbeit bereits enthalten: Es geht um das Phänomen, daß bei Luhmann die traditionelle "hermeneutische Begrifflichkeit [...] zwar zum größten Teil beibehalten, doch ihre Semantik radikal verschoben [wird]" (3). Während die Handlungstheorien in der Version Max Webers oder Alfred Schützens, auf die Wittenbecher sich bezieht, den Verstehensprozeß als Leistung des handelnden Subjekts begreift und ihm eine konstitutive Rolle bei der Hervorbringung gesellschaftlicher Wirklichkeit zuschreibt, gerät in Luhmanns Systemtheorie, die ihren Ausgangspunkt in geschlossen operierenden Systemen nimmt, Verstehen als Syntheseleistung des Subjekts aus dem Blick. Dennoch führt Luhmann den Verstehensbegriff auf der Systemebene wieder ein. Indem er nämlich Information von Mitteilung scheidet, um einen sozialwissenschaftlich sinnvollen Kommunikationsbegriff zu gewinnen, muß er auf Verstehen als genuin soziologischen Begriff wieder Bezug nehmen. Hier allerdings ist das Verstehen "kein teleologischer Prozeß hin zum frohen Ende, sondern ein rekursiv-selbstreferentieller, in dem sich kommunikatives Ereignis auf kommunikatives Ereignis bezieht" (185). Doch die semantische Verschiebung des Begriffs mündet nach Wittenbecher nicht in einer diametralen Entgegensetzung alternativer soziologischer Erklärungsmodelle, wie die klassische Gegenüberstellung von System- und Handlungstheorie es gerne will. Denn: Das "immense Übersetzungs- und Reformulierungsprogramm [Luhmanns ...] schließt nicht aus, sondern ein, daß Spuren des begrifflichen Ursprungs mitgeschleppt und übernommen werden" (181), da die "Systemtheorie Luhmanns quer zu den [geläufigen] Oppositionspaarungen" (180) stehe. Die Zentralthese des Werkes bildet folglich die "re-entry-These": In die Systemtheorie selbst schleiche sich mit der Übernahme der klassischen Begrifflichkeit die Unterscheidung zwischen Systemtheorie und Hermeneutik ein. "By overall preference der Systemtheorie" (4), mit dem Instrumentarium der Systemtheorie also, rekonstruiert Wittenbecher systematisch die drei Verstehensformen autopoietischer Systeme: "Der basalen Selbstreferenz entspricht das operative Verstehen, das für Anschlußofferten sorgt; der prozessualen Selbstreferenz entspricht das reflexive Verstehen [...]; der systemischen Selbstreferenz schließlich entspricht das Verstehen als Verständnis" (182). Anhand dieser drei Verstehensbegriffe erarbeitet die Autorin Korrespondenzen und Differenzen des Luhmannschen Konzeptes zur Verstehenden Soziologie und zeigt, daß beide Ansätze trotz divergierender theoretischer Ausgangspunkte zu ähnlichen Ergebnissen kommen.
Florian Weber (FW)
M. A., wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena.
Rubrizierung: 5.42 Empfohlene Zitierweise: Florian Weber, Rezension zu: Iris Wittenbecher: Verstehen ohne zu verstehen. Wiesbaden: 1999, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/11070-verstehen-ohne-zu-verstehen_13087, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 13087 Rezension drucken
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