/ 04.06.2013
Jürgen Link
Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird
Opladen: Westdeutscher Verlag 1997 (Historische Diskursanalyse der Literatur); 449 S.; kart., 69,80 DM; ISBN 3-531-12880-9Ausgangspunkt der umfangreichen Studie Links ist seine Beobachtung, daß "Normalität" namentlich seit 1989 eine diskurstragende Kategorie darstelle, auf die man sich allerorten - positiv oder negativ - zunehmend beziehe. Nach dem Hinweis auf die Notwendigkeit begrifflicher Differenzierungen etwa zwischen Normalität und Normativität, unternimmt der Autor eine weit ausgreifende systematisch-historische Untersuchung der Normalitätskategorie und des "Normalismus", die die verschiedensten Themengebiete (1968, 1989, NS-Faschismus, Aporien des normalen Nationalstaats etc.) und Personen (etwa Comte, Marx, Nietzsche, Heidegger, Luhmann, aber auch Hitler - der sich übrigens "bloß durch seine Macht, nicht durch seine Mentalität von dem 'Heer' der anderen Radikalfaschisten unterschied, die aktiv an der Durchführung seiner 'Sonderbehandlungen' mitarbeiteten bzw. sie moralisch mittrugen", 311 - und schließlich den "trockenen Juristen", 441, Roman Herzog) streift. Normalität wird dabei als spezifisch moderne diskursive Konstruktion identifiziert.
Links Studie hat einen besonderen Charakter, insofern sie gewissermaßen transdisziplinär ist: Sie stellt sich nämlich als Spezialdiskurs dar, der aus einer "Interpenetration" von Literaturwissenschaft und Soziologie (genauer: Diskurstheorie) hervorgegangen ist. Dieser neue transdisziplinäre Diskurs scheint leider nicht ohne eine eigene, nicht allgemeinverständliche Sprache auskommen zu können. Deren Besonderheit besteht unter anderem in einer überwältigenden Vielzahl von Metaphern und Spezialausdrücken sowie dem häufigen Einsatz von Anführungszeichen und Kursivdruck. Entsprechend liest sich ein zentrales Ergebnis der Studie folgendermaßen: "Normalismus ist demnach ein 'unorganisches' Kombinat aus heterogenen Diskurskomplexen und Dispositiven, das 'spinnenartig' um eine Kern-Funktion und ein Kern-Dispositiv herum montiert ist. Die normalistische Kern-Funktion besteht in der ver-sichernden Regulierung der modernen exponentiellen (positiven und negativen) Wachstumstrends. Hier besteht also eine strukturelle Kopplung zwischen Normalismus und allgemeiner moderner Dynamik. Das Kern-Dispositiv ist die [...] erläuterte homöostatische Vorstellung auf der Basis von Homogenisierung, Kontiniuierung und Eindimensionalität. Sozusagen im Kern des Kerns liegt die mathematisch-statistische Taktik der Normalisierung mittels des Modells der gaußschen (bzw. gaußoiden) Normalverteilung. Dabei handelt es sich [...] um einen 'Willen', um intervenierende Taktik und nicht etwa um objektive, rein deskriptive Wissenschaft." (342) Es soll hier nicht behauptet werden, man könne das nicht verstehen. Kritisch nachzufragen bleibt jedoch, ob ein solcher Jargon notwendig ist zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einem spannenden Thema.
Aus dem Inhalt: VI. Umrisse einer struktural-funktionalen Theorie des Normalismus: 1. Normalismus als Antwort auf moderne 'exponentielle' Dynamiken; 2. Konkurrenzinduzierte Dynamik als Energie der 'exponentiellen' Trends ("Leistungsprinzip"); 3. "Atomisierung" und Ver-massung im normalistischen Blick; 4. Zur Sonderrolle der Industrienorm im Normalismus; 5. Konstitution von homogenen Normalfeldern mittels der Herstellung von Vergleichbarkeit und mittels Verdatung; 6. Kontinuierung der Diskontinuitäten - Normalisierung semantischer und symbolischer Differenzen - Eindimensionalisierung, Skalierung und Quantifizierung; 7. Das Bündel normalistischer Kurven, die Gaußoidkurven und das Basis-Normalitäts-Dispositiv; 8. Normalisierendes Floating; 9. Normalismus und Prognostik; 10. Selbst-Normalisierung der Subjekte, normalistische Subjektivität; 11. Das Paradox der Normalitätsgrenze; 12. Normalismus: Konturen eines Konzepts.
Michael Henkel (MH)
Priv.-Doz. DR., Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena.
Rubrizierung: 5.42
Empfohlene Zitierweise: Michael Henkel, Rezension zu: Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Opladen: 1997, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/5146-versuch-ueber-den-normalismus_6765, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 6765
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Priv.-Doz. DR., Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena.
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