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/ 06.02.2014
Markus Wustmann

"Vertrieben, aber nicht aus der Kirche?" Vertreibung und kirchliche Vertriebenenintegration in SBZ und DDR am Beispiel der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens 1945 bis 1966

Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2013 (Geschichte und Politik in Sachsen 30); 690 S.; hardc., 49,- €; ISBN 978-3-86583-770-7
Geschichtswiss. Diss. Leipzig; Begutachtung: U. von Hehl, E. Bünz. – „Die ehemalige DDR gilt heute als einer der am stärksten säkularisierten Landstriche weltweit.“ (535) Diese Feststellung trifft auf eine Region zu, die jahrzehntelang der religionsfeindlichen Politik einer kommunistischen Diktatur ausgesetzt war – was meist zur Erklärung der religiösen Abstinenz herangezogen wird, mit Blick etwa auf einen Vergleich mit Polen aber nicht die ganze Wahrheit sein kann. So ist es interessant, dass Markus Wustmann beispielhaft die Haltung der evangelisch‑lutherischen Landeskirche Sachsens gegenüber evangelischen Vertriebenen – Gläubigen und Pfarrern – herausarbeitet. Sie stellen nach Kriegsende einen nennenswerten Teil der Bevölkerung. Wustmann ist in seinen Schlussfolgerungen eher zurückhaltend, aus seiner akribischen Darstellung geht allerdings unzweideutig hervor, wie schwer sich diese Kirche angesichts der Konsequenzen aus dem Verlust der östlichen Landesteile tat. Zunächst wurde den schlesischen Pfarrern unterstellt, mit der von der Kirche nicht genehmigten Flucht ihre Gemeinden in Stich gelassen zu haben. Ihnen wurde sogar noch im September 1945 nahegelegt, über die neue Grenze illegal zurückzukehren – „‚allein (also ohne Familie)‘“ (478), so die Aufforderung der Kirchenleitung. Obwohl dies nur unter Lebensgefahr oder gar nicht möglich war, waren die vertriebenen Geistlichen laut Runderlass 1946 „lediglich in schlecht besoldete vikarische, unter der Maßgabe jederzeitigen Widerrufes stehende Dienstverhältnisse“ (577) einzustellen. Sie avancierten zu Lückenbüßern auf frei gewordenen Stellen und wurden erst im Laufe der Jahre voll in die Landeskirche integriert. Zugleich wurden die Möglichkeiten, sich seelsorgerisch und karitativ um die vertriebenen Gläubigen zu kümmern, zunehmend eingeschränkt. Die Bildung gesonderter Flüchtlingsgemeinden war von Anfang an sowohl von kirchlicher als auch von Seiten des (Besatzungs‑)Regimes unerwünscht. Zudem drängte die SED die Pfarrer aus den Übergangslagern heraus, um die Menschen über eigene kulturelle und materielle Hilfen an das neue System zu binden. Von Staats wegen wurden die Vertriebenen alsbald in Umsiedler umbenannt – und auch in der Kirche sollten sie sich schnell anpassen und ihre eigene Frömmigkeitskultur ablegen. „Manchem sächsischen Geistlichen gilt es noch heute als ‚offenes‘ Geheimnis, dass sich die sächsische Landeskirche an den Vertriebenen ‚schwer versündigt‘ habe.“ (14)
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.314 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Markus Wustmann: "Vertrieben, aber nicht aus der Kirche?" Leipzig: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/36697-vertrieben-aber-nicht-aus-der-kirche_44721, veröffentlicht am 06.02.2014. Buch-Nr.: 44721 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken
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