/ 03.06.2013
Wilhelm von Sternburg
Warum wir? Die Deutschen und der Holocaust
Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 1996; 110 S.; 12,- DM; ISBN 3-7466-8506-0Nicht zuletzt durch Goldhagens "Hitlers willige Vollstrecker" (vgl. Heft 4/96, 1.136 f.) ist v. Sternburgs Band ein wichtiger Beitrag zur Diskussion, die seit Herbst 1996 in einer breiteren Öffentlichkeit andauert. Der Verfasser, zwischen 1979 und 1993 Fernsehjournalist und jetzt freier Autor, bietet eine geschichtliche Darstellung der gesellschaftlichen und politischen Faktoren für den Holocaust, die auch als Einführung in die Thematik geeignet ist, aber auch eine anschauliche Aufarbeitung der Frage, wie die Deutschen mit dem Dritten Reich und dem Holocaust in der Nachkriegszeit umgegangen sind.
Goldhagens Buch wird einerseits als wichtiger Diskussionsbeitrag begrüßt sowie gegenüber dem Vorwurf der mangelnden Originalität verteidigt: "Wurde denn je ein Buch zu dieser Thematik geschrieben, das nicht auf andere Forschungsberichte oder bereits verwendete Archivmaterialien zurückgegriffen hätte? Manche Bereiche, die Goldhagen anspricht, liegen zudem für die Historiker immer noch im Dunkel." (45) Andererseits übersehe der Autor "die Komplexität des Zusammenbruchs der deutschen Zivilgesellschaft". Er vernachlässige, "daß der deutsche Antisemitismus allein den Holocaust nicht bewirkt hat" und formuliere zu pauschale Schuldzuweisungen (47).
Die Kollektivschuld-These hat wie in der Goldhagen-Debatte eine zentrale Bedeutung. V. Sternburg lehnt die These ab: Schuld als ethischer Begriff könne nur auf den einzelnen Menschen angewendet werden, das Kollektiv sei ein abstraktes Neutrum. "Wenn es - im Sinne des Kollektivschuld-Vorwurfs - alle gleichermaßen waren, dann verschwindet die eigene Untat im Meer der mörderischen Zeit." (51) Der Aspekt der individuellen Schuld wird unterstrichen: Auf der "Opfer- und auf der Täterseite waren es in jedem einzelnen Fall Menschen und nicht Strukturen oder Apparate, die handelten und litten, mordeten und ermordet wurden." (71) Allerdings falle es schwerer, nicht von einem Kollektiv - und folglich nicht von Kollektivschuld - zu sprechen, wenn man an die Richterschaft, Hochschullehrer, Kirchenleitungen, Mediziner, Bürokratie u. a. Berufsgruppen denke. Es bleibe die "bittere Feststellung, daß die deutsche Oberschicht nicht nur mitgemacht, sondern auch konsequent mitgehandelt hat" (49).
Aber "Warum wir?" Die Faktoren, die den Holocaust ermöglicht haben, lägen weniger in der deutschen Staatsgeschichte, "die das bevorzugte Thema der Historiker ist, sondern in seiner Mentalitätsgeschichte" (60). V. Sternburg hält spezifisch deutsche Tugenden für ausschlaggebende Faktoren, die schon lange vor Hitler in der Bevölkerung weitverbreitet waren: "Absolute Staatsgläubigkeit, militarisiertes Denken, übereifriger Untertanengeist, eine moralische Schranken nicht akzeptierende Autoritätsfixierung, Ablehnung der Demokratie und überzeugte Befürwortung des Führerprinzips, Antisemitismus und Rassismus, die am Ende nicht bei Worten haltmachten, sondern sich in Befehlen und Taten niederschlugen." (68) Wie konnten sich diese spezifisch deutschen Tugenden durchsetzen bzw. warum hat nicht eine demokratische Entwicklung wie in den westlichen Demokratien stattgefunden? "Weil in den 150 Jahren seit der französischen Revolution in Deutschland kein selbstbewußtes Bürgertum und keine klassenbewußte Arbeiterschaft entstanden ist wie in England und in Frankreich" (102). Während dort der Widerstand der Konservativen in Adel, Kirche und Militär immer wieder überwunden wurde, "ließen sich die Deutschen dagegen von Preußens Konservativen [...] das Rückgrat brechen" (102 f.). Zwischen 1870 und 1914 ging die politische Rückständigkeit in Deutschland mit industiellem Wachstum einher. Die Führer der Arbeiterbewegung gaben sich revolutionär, wußten aber, daß es ihrer Klientel materiell besser ging als der französischen und britischen Arbeiterschaft (63). Die Deutschen verpaßten die Revolution und "überspielten mit omnipotenten Machtansprüchen und brachialem Auftreten die wachsenden Minderwertigkeitsgefühle" (103). "Humanität und Ratio", so v. Sternburg abschließend, "blieben dabei - allen 'Erklärungen' zum Trotz - in einem immer noch unfaßbaren Ausmaß auf der Strecke. Wenn wir dies vergessen, die Opfer der hybriden Allmachtswünsche [...] aus der historischen Erinnerung herausnehmen, verspielen wir auch unsere Zukunft" (110).
Stefan Lembke (SL)
M. A., Politikwissenschaftler.
Rubrizierung: 2.312
Empfohlene Zitierweise: Stefan Lembke, Rezension zu: Wilhelm von Sternburg: Warum wir? Berlin: 1996, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/2194-warum-wir_2670, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 2670
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M. A., Politikwissenschaftler.
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