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/ 04.06.2013
Wolfgang Wippermann

Wessen Schuld? Vom Historikerstreit zur Goldhagen-Kontroverse

Berlin: Elefanten Press 1997; 142 S.; pb., 24,90 DM; ISBN 3-88520-622-6
In der Goldhagen-Kontroverse geht es nach dem Berliner Historiker Wippermann weniger um fachwissenschaftliche Aspekte als um Fragen unserer politischen Kultur, die durch die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit geprägt ist. "Wer diesen Diskurs bestimmt, die Begriffe besetzt und die entscheidenden Fragen stellt, der hat [...] den Kampf um die 'kulturelle Hegemonie' [Gramsci] in diesem Lande gewonnen." (8) Der Autor setzt sich zunächst mit vier Diskursen auseinander, die in diesem Kontext immer wieder auftauchen: mit der Singularitätsthese (Historikerstreit), der These von der geographischen Mittellage Deutschlands, der Kriegsschulddiskussion und den auch positiven Effekten des nationalsozialistischen Regimes. "Alle vier Diskurse [...] sollen unsere Schuld relativieren" (9). Und diese "Entschuldung" der Nation solle einen Schlußstrich unter die Vergangenheit setzen. Goldhagen habe nun einfach die Schuldfrage neu gestellt, und fast alle deutschen Rezensenten seien in "nationalistische Entsetzensschreie" (108) ausgebrochen. Wippermann bietet eine interessante Rundschau auf die – seiner Ansicht nach zumeist kontraproduktiven - öffentlichen Reaktionen und berichtet auch von einer Podiumsdiskussion mit Goldhagen, bei der er selbst erlebt hat, wie Mommsen mit seiner strukturalistischen Argumentation beim Publikum gescheitert ist. Diese hatte in der Aussage gemündet, daß die Täter ihrem Geschäft überwiegend "gedankenlos" nachgegangen seien (104). Goldhagens Buch sei auch ein Angriff auf die Strukturgeschichte an sich und werde deswegen wiederum sogar von sozialliberalen, aber eben strukturalistisch orientierten Historikern angegriffen. Goldhagen wird vom Autor gelobt, weil er sich nicht auf den Pfaden der bisherigen Diskurse bewegt und weil er mit seinem Buch eine wichtige Diskussion angestoßen hat (115 f.). Daneben kritisiert Wippermann Goldhagen wegen der "emphatischen Schreibweise", wegen der "Vermischung von Fakten und Fiktionen" und wegen der Verengung auf die antisemitische Perspektive. Angesichts der Verbrechen z. B. gegenüber Sinti und Roma sei vielmehr von einer rassistischen Motivation auszugehen (98 ff.). Inhaltsübersicht: "Totalitäre Diktaturen"? Trivialisierung durch Vergleich; "Tragische Mittellage"? Entschuldung durch Geographie; "Erzwungener Krieg"? Rechtfertigung durch Aufrechnung; "Auch gute Seiten"? Relativierung durch Modernisierung; "Jüdischer Scharfrichter"? Goldhagen und die "selbstbewußte Nation"; Zusammenfassung. Wessen Schuld? Vom Historikerstreit zur Goldhagen-Kontroverse.
Stefan Lembke (SL)
M. A., Politikwissenschaftler.
Rubrizierung: 2.352.312 Empfohlene Zitierweise: Stefan Lembke, Rezension zu: Wolfgang Wippermann: Wessen Schuld? Berlin: 1997, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/3748-wessen-schuld_5021, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 5021 Rezension drucken
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