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/ 31.05.2013
Hermann Scheer

Zurück zur Politik. Die archimedische Wende gegen den Zerfall der Demokratie

München/Zürich: Piper 1995; 238 S.; 29,80 DM; ISBN 3-492-03782-8
Scheer sieht die Überlebensfähigkeit der Gesellschaft und den demokratischen Verfassungsstaat in Gefahr. Es sei zu erkennen, daß die "globale Zivilisation in die tiefste Krise der Menschheitsgeschichte stürzt" (11). Es gelte daher, die "archimedischen Punkte" (12) herauszufinden, an denen die Antriebskräfte für die Krise aber auch die zentralen politischen Schlüssel zur Krisenüberwindung zu finden sind. In den ersten beiden Teilen unternimmt Scheer eine /index.php?option=com_content&view=article&id=41317reiche Analyse national-staatlicher und globaler Probleme, um im dritten Teil "archimedische Wendepunkte" zur Problemlösung vorzustellen. Zunächst wendet er sich dem "Fundamentalismus" westlicher Demokratien zu. Merkmal von Fundamentalismus sei, die eigene Irrationalität nicht mehr zu erkennen. So führt nach Scheer moderner Individualismus oft zu moralisch enthemmtem Egoismus, zur Vereinzelung und zu Konkurrenzverhalten. Parallel zur "Verherrlichung des Eigeninteresses" (35) bestehe in der Wirtschaftspolitik eine falsche Fixierung allein auf die Liberalisierung. Diese "ökonomische Monomanie" (63) führe global zu einem Wettkampf um die Externalisierung von Kosten, zu sozialer Verelendung und zu einem "Ökozid der Menschheit" (74). Fundamentalistisches wirtschaftslibertäres Denken gehe auch außerhalb der westlichen Staaten einher mit dem Absterben der humanitären Demokratie und neuen kulturkämpferischen Ansätzen. Der Kampf um die Bewahrung der eigenen Kultur stehe jedoch in eklatantem Widerspruch zu den "Kopierversuchen des wirtschaftslibertären Modells." (90) Auf der innerstaatlichen Ebene vollziehe sich eine Auflösung des Politischen. In der Gesellschaft sinke das "Bewußtsein für Gemeinschaftsnotwendigkeiten" (95). Mit diesen Zerfallsprozessen der Gesellschaft hänge auch die Krise der politischen Entscheidungsträger zusammen. Deren Handeln komme immmer weniger der Allgemeinheit zugute und beziehe sich nicht mehr auf eine für die gesamte Gesellschaft positive Idee. Bei den politischen Entscheidungsträgern liegt nach Scheer der Schlüssel zum Problem: So sind die Parteien zwar gegenüber der Kritik in der "Weizsäcker-Debatte" zu verteidigen. Allerdings zeigen die Trends in den westeuropäischen Parteiensystemen eine abnehmende Wählerbindung zu den großen Volksparteien. Ein Grund dafür ist zum einen der Spitzenkandidatenkult, der die programmatische Gestaltungs- und Mobilisierungsfunktion der Parteien verdrängt. Die in ihrer Wirkung überschätzten Spitzenkandidaten werden zu Meinungsführern in den Medien und nehmen den Parteien "die Möglichkeit zur geistigen Autonomie" (114). In den konservativen Parteien vollzieht sich inhaltlich ein "Wertewandel zu einem neodarwinistischen Ausleseprinzip" (132). Sozialdemokratische Parteien haben es schwer, Alternativen zu entwickeln, weil ihr sozialethisches Bewußtsein durch scheinbare Sachzwänge erschüttert ist. Durch die zunehmende Politikverflechtung zwischen den politischen Akteuren, auch durch die EU, sowie die zunehmende Komplexität der Probleme kommt es insbesondere zu einer Erosion der parlamentarischen Kontrollkompetenzen. Die autonome politische Entscheidung - so wie durch ein Verfassungsgericht oder durch Plebiszite - kann von Parlamentariern nicht mehr getroffen werden. Grundlegendes Problem ist auch die Angst, nichtkonformistische Positionen zu beziehen. Den sich ergebenden Konflikten kann man jedoch langfristig nicht ausweichen (161). Im dritten Teil legt Scheer zunächst seine grundlegenden Ansätze dar: die Zusammenführung von Ökologie und Ökonomie und Kants kategorischer Imperativ als naturgesetzliche Pflicht. Im folgenden konkretisiert und diskutiert er drei "archimedische Wendepunkte": 1. Eine weltwirtschaftliche Märkteordnung statt globalökonomischer Gleichmacherei, die weder die ökologischen noch die sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Weltgesellschaft berücksichtigt; 2. die weitgehende Entflechtung wirtschaftlicher Machtstrukturen – Stichwort multinationale Unternehmen –, um sowohl eine funktionsfähige Marktwirtschaft als auch die notwendigen öffentlichen Regulierungen zu ermöglichen; 3. eine demokratietheoretisch begründete Entflechtung politischer Institutionen und privater Medienmacht, um elementar notwendige Staatsfunktionen zu verbessern und demokratische Spielräume zu erweitern (192). Notwendig seien aktive politische Individuen sowie Parteien, die wieder Handlungsalternativen erarbeiten, und gesellschaftliche Organisationen, die diese Alternativen unterstützen. Inhalt: Krise ohne Alternative? Mißlungener Umbruch und versäumte Wende; Konsensdiktatur und Widerspruchsleugnung; I. Der westliche Fundamentalismus: Siegerhybris und Verwandlung; Subjektivismus und moralischer Verfall; Ermüdung des Wohlfahrtsstaates und wirtschaftslibertäre Entfesselung; Ökonomische Monomanie und reaktionäre Utopie; Das Absterben des Staates, neue Barbarei und Kampf der Kulturen; II. Die Auflösung des Politischen: Parteien kontra Bürger? Die Erosion der Parteiendemokratie; Die Selbstentäußerung des demokratischen Systems; Wertelüge: die Existenzkrise konservativ-demokratischer Parteien; Umbruchslähmung: die Existenzkrise sozialdemokratischer Parteien; Entpolitisierung und Diffusion der Massenparteien? III. Der sozialökologische Generationenvertrag: Ökologie ist Ökonomie: Vom Reichtum und von der Armut der Nationen zum Reichtum der Natur; Links und rechts vor dem 21. Jahrhundert; Handlungsfelder der archimedischen Wende; Kooperative Wachablösung im Europäischen Haus und globale Entspannung; Lotsen, Kreuzer und Begleitschiffe.
Stefan Lembke (SL)
M. A., Politikwissenschaftler.
Rubrizierung: 2.22.222.262.322.332.613.14.432.21 Empfohlene Zitierweise: Stefan Lembke, Rezension zu: Hermann Scheer: Zurück zur Politik. München/Zürich: 1995, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/461-zurueck-zur-politik_216, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 216 Rezension drucken
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