/ 13.11.2014
Henning Borggräfe
Zwangsarbeiterentschädigung. Vom Streit um "vergessene Opfer" zur Selbstaussöhnung der Deutschen
Göttingen: Wallstein Verlag 2014 (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 16); 562 S.; geb., 42,- €; ISBN 978-3-8353-1413-9Geschichtswiss. Diss. Bochum; Begutachtung: C. Goschler, F. Lemmes. – Henning Borggräfe beschreibt die Vorgeschichte der Entschädigung der Osteuropäerinnen und Osteuropäer, die während der NS‑Diktatur zur Arbeit gezwungen wurden, durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (siehe Constantin Goschler [Hg.], „Die Entschädigung von NS‑Zwangsarbeit am Anfang des 21. Jahrhunderts“, Buch‑Nr. 42553). Diese Vorgeschichte rekonstruiert er entlang der „Veränderungen der Repräsentation und Interessenvertretung der NS‑Verfolgten“, der Entwicklung der historischen Forschung zum Thema sowie mit Blick auf die „entschädigungspolitischen Akteurskonstellationen“ (12) und Machtverhältnisse, wobei der gesamte Diskurs zwischen zwei Polen pendelt(e): „Der einen Seite gilt der Streit um die Zwangsarbeit als ein weiteres Kapitel in der langen Skandalgeschichte der Wiedergutmachung […]. Die andere Seite […] sieht in der Zwangsarbeiterentschädigung eine verspätete Erfolgsgeschichte bundesrepublikanischen Umgangs mit der NS‑Vergangenheit“ (513). Borggräfe sieht die Mehrheit der öffentlichen Meinung inzwischen der zweiten Deutung zugeneigt. Wie lang der Weg dorthin allerdings war, wird in seiner umfangreichen Darstellung deutlich – wobei (nicht nur) der erste Teil über die Zeit, in der Zwangsarbeit vornehmlich als normale Begleiterscheinung eines Krieges abgetan worden war, nachträgliches Fremdschämen aufkommen lässt. Den Beginn des Umdenkens datiert der Autor auf das Jahr 1979 mit der Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust“, dem Erscheinen des Buches „Less than Slaves“ von Benjamin B. Ferencz und mit der durch die neuen sozialen Bewegungen veränderten Wahrnehmung von Recht und Unrecht, von Diskriminierung und Minderheitenrechten. Es ist nur bedauerlich, dass Borggräfe wiederholt die Grünen, die parteipolitische Manifestation dieser Bewegungen, ohne Analyse der innenparteilichen Prozesse als Vertreter auch eigener Interessen abkanzelt – obwohl sie der Debatte um Ausgleichszahlungen und moralischer Anerkennung wichtige Impulse gegeben haben. Zugleich werden die politischen Vorgaben noch in den 1980er‑Jahren durch die CDU/FDP‑Regierung, die sicher das Bundesfinanzministerium in seiner fragwürdigen Rolle legitimierten, Entschädigungszahlungen als Bedrohung abzuwehren, kaum explizit reflektiert. Positiv herausgestellt wird dagegen die Rolle der aufkommenden Geschichtsschreibung „von unten“, mit der der Blick auf Minderheiten und einzelne Menschen gelenkt wurde. Nicht zu übersehen ist dennoch, dass die Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiterinnen und ‑arbeiter, über die jahrzehntelang von wechselnden Akteuren gestritten worden war, erst dann zustande kamen, als deutschen Wirtschaftsunternehmen in den USA Sammelklagen drohten.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.35 | 2.313 | 2.314 | 2.315 | 2.331 | 4.21 | 2.322 | 5.2 | 2.64 | 2.23 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Henning Borggräfe: Zwangsarbeiterentschädigung. Göttingen: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/37779-zwangsarbeiterentschaedigung_46010, veröffentlicht am 13.11.2014. Buch-Nr.: 46010 Inhaltsverzeichnis Rezension druckenDipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
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